Die Spiegelgasse in der Zürcher Altstadt wird oft als die „literarischste Straße der Schweiz“ bezeichnet. Warum das so ist, wird gleich an der ersten Ecke klar: Denn dort, im Haus Spiegelgasse 1, befand sich das berühmte „Cabaret Voltaire“, das als die „Geburtsstätte“ des Dadaismus gilt. Das „Geburtsjahr“ war 1916. Am 19. Januar 1916 schrieb Jan Ephraim, der aus den Niederlanden stammende Wirt der im Haus untergebrachten „Meierei“ (bei der es sich, anders, als der Name vermuten lässt, um eine Weinstube handelte), an die Zürcher Polizei:
„Eine in meinem Lokal (Meierei, Holländische Weinstube, Spiegelgasse) verkehrende Gesellschaft junger Künstler und Literaten ist mit der Bitte an mich herangetreten, den meiner Weinstube angegliederten Saal, der zur Zeit freisteht, als Künstlerkneipe einzurichten. Die Herren beabsichtigen, (…) einen Sammelpunkt künstlerischer Unterhaltung und geistigen Austausches zu schaffen. Sie möchten in diesem meinem Saale aus eigenen Werken vorlesen, zur gegenseitigen Unterhaltung beitragende Vorträge veranstalten, kurz einen Treffpunkt des künstlerisch interessierten Publikums einrichten. (…) Ich habe den Herren, die ich persönlich als anständige und begabte Menschen kenne, gerne mein Lokal in Aussicht gestellt, möchte mich hiermit aber vergewissern, ob von Seiten der Polizei keine prinzipiellen Bedenken bestehen.“
Es bestanden keine „prinzipiellen Bedenken“, und so konnte das zunächst „Künstlerkneipe Voltaire“ benannte Lokal am 5. Februar 1916 eröffnet werden. In dem rund 50 Personen fassenden Saal, dessen Wände schwarz und dessen Decke blau gestrichen worden waren, lasen Hugo Ball und Tristan Tzara aus ihren Werken, Emmy Hennings sang eigene Lieder, Hans Arp und Marcel Janco zeigten Bilder, ein Balalaika-Ensemble spielte russische Volksmusik. Es folgten weitere Veranstaltungen, an denen unter anderen die Tänzerin und Malerin Sophie Taeuber, der Schriftsteller Richard Huelsenbeck und der Maler Max Oppenheimer teilnahmen. Allerdings übersiedelte man bald an andere Veranstaltungsorte in der Stadt, und bereits nach wenigen Monaten, im Sommer 1916, hatte das „Cabaret Voltaire“ als Treffpunkt der Dadaisten ausgedient.
Zur „Wiedererweckung“ kam es Jahrzehnte später, nachdem die Liegenschaft in den Besitz einer zum Versicherungskonzern Swiss Life gehörenden Immobilienagentur überging und der Umbau zu Luxuswohnungen angekündigt wurde. Dies führte zu zahlreichen Protesten und im Frühjahr 2002 zur Hausbesetzung durch eine Gruppe von Künstlern, die mit dadaistisch-inspirierten Veranstaltungen auf die kulturhistorische Bedeutung des Gebäudes aufmerksam machte. Der Umbau kam nicht zustande – auch, weil sich die Interessenten aufgrund der Entwicklung zurückgezogen hatten. Die Stadt Zürich trat in der Folge als Mieter auf, und seit 2004 beherbergt das Gebäude ein neues, von einem privaten Verein geführtes „Cabaret Voltaire“. Dieses definiert sich auf seiner Website „als ein Kompetenzzentrum und kulturell und kulturhistorisch bedeutender Ort der philosophischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit Dada.“ Diese Auseinandersetzung erfolgt in Lesungen, Konzerten, Performances, Diskussionen, Filmvorführungen und Ausstellungen. Außerdem befindet sich im Haus ein Shop, in dem „Dadaistisches“ verschiedenster Art angeboten wird – von Büchern zum Thema Dada bis zu Dada-Seifen und einem Dada-Absinth, der übrigens auch in der Bar des Cabarets verkostet werden kann.
Im Frühjahr 2017 wurde das Haus in der Spiegelgasse zum Thema lokalpolitischer Auseinandersetzungen. Anlass dafür war ein geplantes Tauschgeschäft: Die Stadt Zürich sollte von Swiss Life die Dada-„Geburtsstätte“ (und ein weiteres Gebäude) erhalten und dafür ein Geschäftshaus und ein Grundstück an den Konzern abtreten. Während das Vorhaben von der Zürcher SP und den Grünen unterstützt wurde, gab es vor allem von Seiten der linken Alternativen Liste heftigen Widerstand. Dabei ging es nicht um den Kulturbetrieb im „Cabaret Voltiare“ und auch gar nicht um das Haus in der Spiegelgasse an sich. Vielmehr meinte die Alternative Liste, dass die Stadt bei dem Tauschgeschäft der Swiss Life ein Grundstück überlasse, auf dem der Konzern dann mit viel Profit teure Luxusimmobilien errichten könne. Entschieden wurde die Sache schließlich am 24. September 2017 durch eine in Zürich abgehaltene Volksabstimmung, bei der sich mit 64,5% eine Mehrheit für den Immobilientausch aussprach. Vorerst bis 2020 wird nun die Stadt als Hauseigentümer dem „Cabaret Voltaire“ die Miete (die auch bisher von der Stadt bezahlt wurde) erlassen und den Kulturverein mit einem jährlichen Betriebsbeitrag von 100.000 Franken unterstützen.
„Seltsame Begegnisse: während wir in Zürich, Spiegelgasse 1, das Kabarett hatten, wohnte uns gegenüber in derselben Spiegelgasse (…), Herr Ulianow-Lenin. Er mußte jeden Abend unsere Musiken und Tiraden hören, ich weiß nicht, ob mit Lust und Gewinn“ – notierte der Schriftsteller Hugo Ball in seinen Erinnerungen. Tatsächlich war gerade um jene Zeit, als das „Cabaret Voltaire“ seinen Spielbetrieb aufnahm, Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin, gemeinsam mit seiner Ehefrau Nadeschda Krupskaja in das Haus Spiegelgasse 14 eingezogen (das sich allerdings nicht, wie es Balls Notiz nahelegt, direkt gegenüber dem „Cabaret Voltaire“ befindet, sondern knapp hundert Meter entfernt davon).
Seit dem Herbst 1914 lebten Lenin und Krupskaja im Exil in der Schweiz, zunächst in Bern, dann in Zürich. Ob der russische Exilant viel vom Treiben im „Cabaret Voltaire“ mitbekam, ist ungewiss. Fraglich ist auch, ob er sich überhaupt dafür interessierte. Nach Zürich war er gekommen, um, wie er am 12. März 1916 an seine Mutter schrieb, „in den hiesigen Bibliotheken etwas zu arbeiten“. Außerdem vermerkte er: „Der See hier gefällt uns sehr, und die Bibliotheken sind besser als in Bern, so dass wir wohl noch länger bleiben werden, als wir vorhatten“. Sie blieben bis Anfang April 1917 in Zürich, um dann – im versiegelten Waggon – zurück nach Russland zu reisen, wo sich Lenin an die Spitze der Revolution stellte.
Das Zimmer, das Lenin und Nadeschda Krupskaja im zweiten Stockwerk des Hauses Spiegelgasse 14 bewohnten, gehörte zur Wohnung des Schuhmachers Titus Kammerer. Dieser nutzte für sich, seine Frau und seine drei Söhne zwei Zimmer, die anderen Räume waren untervermietet, was die Situation insgesamt überaus beengt machte. In einem Raum wohnte, so erinnerte sich Nadeschda Krupskaja, „die Frau eines im Felde stehenden deutschen Bäckers mit ihren Kindern; in einem anderen irgendein Italiener, in einem dritten österreichische Schauspieler mit einer erstaunlichen rothaarigen Katze; im vierten wir“.
Eine Gedenktafel am Haus in der Spiegelgasse 14 erinnert daran, dass einst Lenin hier gewohnt hatte. Allerdings bezieht sich die Inschrift nur auf den Ort, nicht auf das Gebäude. Denn als 1970 das Lenin-Wohnhaus unter Denkmalschutz gestellt werden sollte, erwies es sich in einem derart schlechten Bauzustand, dass man entschied, es durch einen Neubau zu ersetzen. Die Tafel ist damit älter als das Haus: Sie wurde 1928 angebracht, was nicht ohne einige Proteste abging. Denn der Hauseigentümer wehrte sich heftig dagegen, weil, wie er meinte, die Liegenschaft durch die Lenin-Gedenktafel eine Wertminderung erfahre. Der Zürcher Stadtrat sagte dem Eigentümer daraufhin eine entsprechende Entschädigung zu.
In jenen ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts präsentierte sich die Spiegelgasse ganz anders als heute, wo das stille, schmale Gässchen exklusive Läden und teure Wohnungen beherbergt. Der Schriftsteller Arthur Holitscher schrieb in den frühen 1920er Jahren in seinem Essay „Spiegelgasse 14 / Zürich“: „Große kahle Häuser, eng einander gegenüber, die Giebel berühren sich fast. Es sind Häuser, wie man sie in italienischen Hafenstädten antrifft. Armer Leute Häuser, man sieht es gleich. Das Viertel beherbergt Arbeiter, kleine Leute. Im schmalen Gäßchen ein dumpfes Geratter, Tag und Nacht – eine Wurstfabrik arbeitet dort und stößt den Lärm ihrer Maschinen gegen die engen Mauern; die Häuser erschüttern davon.“
Bei seinem Besuch in Lenins ehemaliger Unterkunft habe er, schreibt Holitscher, den Schuhmacher Kammerer gefragt: „‚Was würden Sie sagen, wenn eines Tages unter dem Fenster im zweiten Stock eine Marmortafel oder eine Tafel aus Erz in die Mauer eingelassen würde?‘ Kammerer sieht mich an: ‚Eine Tafel? Zu welchem Zweck?‘ – ‚Zur Erinnerung, daß Lenin 1916/17 in diesem Hause, in dieser Stube gewohnt hat.‘“ Kammerer habe daraufhin nur sehr gelacht, da er sich nicht vorstellen könne, „daß da eine Tafel in die Mauer eingelassen werden soll.“
Mittlerweile gibt es in der Spiegelgasse eine ganze Reihe von Gedenktafeln. So auch gleich am Gebäude neben Lenins einstigem Wohnort. „In diesem Hause starb am 19. Febr. 1837 der Dichter Georg Büchner“ ist da zu lesen, und mit der direkt darunter angebrachten Tafel wird an den Arzt Ulrich Zehnder erinnert.
Georg Büchner, der wegen seines politischen Engagements („Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ – so das Motto des von ihm verfassten „Hessischen Landboten“) aus seiner Heimat, dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt, hatte flüchten müssen, wohnte ab Oktober 1836 in Zehnders Haus, das auch noch andere deutsche Emigranten – so etwa der Publizist Friedrich Wilhelm Schulz und dessen Ehefrau Caroline Schulz – als Mieter beherbergte. Büchner arbeitete in jener Zeit an den zoologischen Vorlesungen, die er an der Zürcher Universität hielt, er vollendete im Haus in der Spiegelgasse 12 sein Lustspiel „Leonce und Lena“ und schrieb an seinem (unvollendet gebliebenen) Drama „Woyzeck“. Als er Anfang Februar 1837 an Typhus erkrankte, wurde er unter anderem von Zehnder behandelt, die Infektion war jedoch so heftig, dass ihr Büchner am 19. Februar 1837 erlag.
Auf die „Nachbarschaft“ von Büchner und Lenin wies der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hin, als er 1958 den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhielt. In seiner Preisrede sagte Frisch: „Emigranten! Revolutionäre! – mit Unterschieden freilich: der eine hinterläßt ‚Woyzeck‘, der andere hinterläßt die Sowjetunion. Es gibt wenige Emigranten, denen sich die Hoffnung aller Emigranten erfüllt: Das Land, das sie haben fliehen müssen, nicht bloß wiederzusehen, sondern umzustürzen durch ihre Heimkehr. Einer dieser wenigen ist Lenin. Büchner stirbt im Exil“.
Vom Büchner-Haus Spiegelgasse 12 hinüber zum Haus Spiegelgasse 11. Dort wurde am 15. November 1741 der Theologe und Philosoph Johann Caspar Lavater geboren, der vor allem durch seine physiognomischen Schriften bekannt wurde, in denen er die Ansicht vertrat, aus Körperformen auf den Charakter eines Menschen schließen zu können. Bis 1778 wohnte der 1801 verstorbene Lavater in seinem Geburtshaus, in dem er, wie die Gedenktafel an dem Gebäude wissen lässt, anno 1775 auch Johann Wolfgang von Goethe zu Gast hatte. Nicht erwähnt wird, dass Goethe damals in Gesellschaft seiner Reisegefährten, der beiden Schriftsteller Christian zu Stolberg-Stolberg und Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg, zu Lavater kam. Unerwähnt bleibt auch, dass Lavater zwei Jahre später den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz bei sich in der Spiegelgasse beherbergte. Lenz, der mit Goethe befreundet gewesen war, der jedoch auf dessen Betreiben nach Meinungsverschiedenheiten Weimar verlassen musste, hatte Lavater um „acht Tage Aufenthalt“ gebeten. Aus den acht Tagen wurde rund ein Vierteljahr, denn von August bis November 1777 wohnte Lenz in der Spiegelgasse.
Zu den Literaten mit zeitweiliger Adresse Spiegelgasse gehörte auch Robert Walser. Er mietete sich im Frühjahr 1902 in dem – heute nicht mehr bestehenden – Haus Spiegelgasse 23 ein. Bald darauf wechselte er wieder den Wohnsitz, allerdings kam er immer wieder in die Spiegelgasse. Dort soll er, so berichtet Max Frisch in seinem Tagebuch, 1917 mit Lenin zusammengetroffen sein und an diesen eine einzige – skurrile, aber wohl typisch walsersche – Frage gerichtet haben, nämlich: „Haben Sie auch das Glarner Birnenbrot so gern?“
29.4.2023. Fotos: B. Denscher