Berichte über Wiener Weihnachtsmärkte finden sich seit dem 18. Jahrhundert. Gegeben aber hat es derartige Märkte wohl schon wesentlich länger. Einer der ältesten Standorte ist der im Stadtzentrum gelegene Platz „Am Hof“. Einen Besuch dort nahm der Publizist Johann Ziegler zum Anlass für ein Feuilleton, das mit dem Titel „Vom Weihnachtsmarkte“ am 20. Dezember 1879 in der „Neuen Freien Presse“ erschien.
„Gestern ging ich über den ‚Hof‘, wo einst die Burg der Babenberger stand und manches glänzende Turnier abgehalten ward. (Ein wenig von dem, was an einen Hof und den Adel erinnert, muss man immer für kleine Leute einstreuen; sie fühlen sich dann selbst ein bisschen vornehm und adelig.) Also dort auf dem stattlichen Platze, wo der Nuntius des Papstes von Rom sein Palais hat, wo die k.k. Creditanstalt an breiter Front zahllose Fenster zeigt, wo eine ehemalige Kirche der Gesellschaft Jesu ihre stattliche Fassade entwickelt, wo das majestätische k.k. Kriegsministerium steht, lauter Gebäude, die vermöge ihrer Dimensionen dem kleinen Menschen imponieren werden, zumal jetzt, da ihre Dächer und Gesimse von Schnee beflockt sind, was sie noch weitläufiger erscheinen lässt – dort wird jedes Mal zur Weihnachtszeit eine winzige Stadt von Zelten und Buden aufgebaut, die sich in der hohen Umgebung wunderlich genug ausnimmt. Geht man dort hinein, so glaubt man gar nicht mehr in der mächtigen, glanzvollen Kaiserstadt zu sein, sondern vielmehr auf einem Markt in Lüneburg, in Rothenburg an der Tauber, in Danzig, in Lübeck.
Weder in England, noch in den Niederlanden, noch in Skandinavien sieht man etwas so Trauliches wie dies; an Italien und Frankreich ist dabei schon gar nicht zu denken. Die deutschen Städte dagegen, von der Eider bis in das tiefste Kärnten, von den östlichen Grenzen bis an die Vogesen, nehmen zur Weihnachtszeit ein ganz verändertes Aussehen an, und wenn die altfränkischen Veranstaltungen, die dabei vorkommen, im Getümmel großer Städte auch weniger bemerkbar sind, wissen sie doch immer ihren Platz zu finden, wo sie sich in ihrer bescheidenen Weise breitmachen können. Die Zelte und Buden haben ihre Gerechtsame von alters her, die man ihnen nicht so leicht nehmen kann und die sich an ganz bestimmte Ecken und Winkel, an vorspringende Pfeiler von Kirchen und Häusern knüpfen. Dort entstehen die kleinen Zelte zur Weihnachtszeit immer wieder von selbst, und wenn sie dastehen, sieht man darin wieder dieselben braunen und bunten Kuchen ausgebreitet, die schon in, Jahre zuvor darin zu sehen waren und die sich wohl auch vor hundert Jahren nicht anders zeigten. Damals gab es freilich noch nicht die Zigarren mit Feuer und Asche, die von der Spitze aus konsumiert werden und nach Mehl und Schokolade schmecken, aber die braunen Heiligen, die Pferde von Lebkuchen und die großen platten roten Herzen mit liebevollen Inschriften, die von Zucker darauf geträufelt sind, waren gewiss schon da, ebenso wie man sie noch heute sieht. Dazu kommt der Tannenwald in die Stadt hereingewandert und macht es sich in den Straßenecken mit seinem tiefgrünen Nadelwerk bequem. Es ist immer dieselbe Sache, in Wien und in Fischamend, in Hamburg und in Schöppenstedt.
(…)
Wenn man aus dem glänzenden Gewühl der Stadt in diese kuriose Gegend von Zelten und Tannendickicht gelangt, über der die bitterkalte Winterluft hängt, so kommen einem alle die Dinge in den Sinn, die man erlebt hat, wenn man einmal zur Weihnachtszeit auf dem Lande war. Die Behaglichkeit in einem wohlgeheizten Hause ist dort groß, wenn draußen der Schnee auf den Dächern der Scheunen liegt und der Winternebel über Wald und Acker streicht, wenn auf dem schmalen gefrorenen Meerbusen, der weit ins Land hereinkommt, die Schlittschuhläufer sich vor Kälte krümmen und hastig aneinander vorbeischießen. Im Zweigwerk der hohen Buchen sitzen dann die Spatzen wie kleine Kugeln, und wenn einer von ihnen sich einmal schaudernd schüttelt, fällt Reif von den Zweigen auf die Schlittschuhläufer herab. Die Schiffe im Fjord sind eingefroren, und im Dorfe am Strande steigt aus den Schornsteinen der Häuser der Rauch zwischen den Bäumen steilrecht in die kalte Luft. Manchmal kracht das Eis, berstet vor Kälte und singt in schneidigen Tönen. Wenn die nordische Wintersonne dann im dicken rotbraunen Qualme des Horizonts hinabsinkt und ihre letzten kalten Strahlen über die blanke Eisfläche wirft, so schnallen die Herren und jungen Mädchen ihre Schlittschuhe ab, eilen nach Hause mit rötlichen Gesichtern, ganz durchfroren, und freuen sich, wenn zum Essen gerufen wird. Das Feuer glüht im Ofen, die Lampen werfen ihren warmen Schein auf den gedeckten Tisch, und ehe die Rouleaus herabgelassen werden, sieht man durchs Fenster noch den schönen vollen Weihnachtsmond, wie er aus dem Wald aufsteigt und über die Schneeflächen … ‚Gnädiger Herr, kaufen Sie mir was ab!“… ‚Ja, so!‘…
Es ist unbegreiflich, aus welche Weise Erinnerungen, die ganz ferne zu liegen scheinen, oft geweckt werden. Oft tut es ein Geruch; hier war es vielleicht die Traulichkeit, vielleicht auch die Kälte in der kleinen Weihnachtsstadt.“
Ausschnitt aus: Johannes Ziegler, Vom Weihnachtsmarkte. In: Neue Freie Presse, 20.12.1879, Morgenblatt, S. 1f.
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