VENEZIANERINNEN

Die eine ist Margherita, sie lebte von 1895 bis 1978, verkaufte in ihrer Jugend in Treviso Zeitungen und wurde – in einer Geschichte, die Rossinis Oper „La Cenerentola“ als Vorbild haben könnte – Gattin des venezianischen Conte Antonio Revedin. Jana Revedin, die Frau des Enkelsohnes, erzählt nun in dem breit angelegten Roman „Margherita“ das persönliche Schicksal der Contessa und deren weitgehend in Vergessenheit geratene Bedeutung für die Stadt Venedig. Denn viel von dem, was Venedig heutzutage so anziehend macht, geht auf die Aktivitäten von Margherita Revedin zurück. Sie gehörte zum Kreis der UnternehmerInnen und AristokratInnen, die dort exklusivsten Kur-, Kultur- und Naturtourismus initiierten, wie zum Beispiel den Golfplatz am Lido, das Filmfestival und die Biennalegärten.

Die anderen drei Venezianerinnen nahmen ihren Wohnsitz im Palazzo Venier dei Leoni am Canal Grande (heute Sitz der „Collezione Guggenheim“). Es sind die Millionenerbin und Mode-Ikone Luisa Casati, die dort ab 1910 lebte, die Salonnière Doris Castlerosse ab 1938, und die Mäzenin und Kunstsammlerin Peggy Guggenheim ab 1949. Die Geschichte des Hauses und seiner prominenten Bewohnerinnen schrieb die englische Tanzkritikerin Judith Mackrell unter dem Titel „Das unvollendete Palazzo“ nieder. Der Untertitel kündigt „Liebe, Leidenschaft und Kunst in Venedig“ an.

Das Buch über „Margherita“ beginnt am 1. Jänner 1920 sehr stimmungsvoll im eiskalten Treviso. Dort verkauft Margherita Zeitungen, und einer ihrer ersten Kunden an diesem kalten Wintermorgen ist der Conte Revedin: „Er trug einen langen Kaschmirmantel mit Pelzkragen, Schal und Melone und stand einen Augenblick bewegungslos, das Gesicht zum Himmel gerichtet.“ Der schmale, hochgewachsene Graf ist Margheritas liebster Klient, er diskutiert mit ihr darüber, was in der Zeitung steht und – er lädt sie zum Tee in sein Palais.

Jana Revedin, Architekturprofessorin und Autorin, weiß, wie man solcherlei Sachen erzählt. Von ihr stammt auch der Band „Jeder hier nennt mich Frau Bauhaus: Das Leben der Ise Frank“. Diesmal also Margherita. Für diese blieb es nicht beim Tee im Palais: Der Conte Revedin macht ihr einen Heiratsantrag, sie wird nach Paris geschickt, „um in die Gesellschaft zu kommen“. Dort trifft sie Coco Chanel, Cole Porter, Pablo Picasso, Igor Strawinsky, Alberto Giacometti, Francis Poulenc und, und, und. Was auch immer Jana Revedin darüber erzählt, es mag so geschehen sein oder auch ganz anders: sie erzählt es bildhaft und ausführlich, es spielt immer das Ambiente mit, die Kleidung, die Speisen und die Getränke. Man versinkt in aristokratischer Luxuswelt, erfährt aber auch viel von der Entwicklung Venedigs zum Tourismus-Hotspot, Peggy Guggenheim taucht auf, das Filmfestival und die Biennale werden gegründet. Mussolini hinterlässt seine Spuren in der Gesellschaft, die Erzählerin springt in der Geschichte weiter, bis dann auf einmal – endlich – sie selbst ins Geschehen eintritt und Antonio Revedin kennenlernt, den Enkel Margheritas. Er ist jetzt der Hafendirektor Venedigs und mit ihm ist sie seit 1991 verheiratet. Und er war es, der ihr die Geschichte seiner Großmutter, die er sehr verehrte, erzählte.

Mit einem orientalischen Fest für die venezianische Gesellschaft im Jahr 1913 leitet Judith Mackrell ihr Buch „Der unvollendete Palazzo“ ein, bevor sie sich der Baugeschichte eben dieses Palazzo Venier dei Leoni zuwendet. Im 18. Jahrhundert zu groß und zu gewagt geplant, verfiel das Gebäude, bis die extrem reiche Marchesa Casati es mietete, und nach ihr versuchte Doris, Lady Castlerosse, sich dort gesellschaftlich neu zu etablieren. Nach dem zweiten Weltkrieg kaufte die amerikanische Kunstmäzenin und Sammlerin Peggy Guggenheim den Palazzo und „verwandelte das Gebäude in einen Schaukasten für ihre Kunst“. Das ist er – als Sitz der Collezione Guggenheim – noch heute. Die Autorin sieht eine gewisse Ironie darin, dass dieser Palazzo, gebaut um eine patriarchale Dynastie zu verherrlichen, durch drei Frauen neue Berühmtheit erlangte: „Luisa machte ihn einschlägig bekannt, Doris machte ihn schick und Peggy verwandelte ihn nicht nur in eines der bedeutendsten Museen der Welt, sondern auch in eines der beliebtesten und meistbesuchten Gebäude Venedigs.“

Das, was sie in der Einleitung in ein paar Sätzen ankündigt, breitet Judith Mackrell dann in einem umfangreichen und auch reich bebilderten Buch aus. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich auf das „Flüstern und die Schatten der Palazzo-Geister einstimmen konnte“, aber dann füllte sie fünfhundert Seiten mit Glanz und Glamour: Da sind die Lebensabschnittspartner der drei Damen, Gabriele DʼAnnunzio, Winston Churchill, Max Ernst und noch viele andere, vor allem finanziell großzügige Männer mit „blassem, rätselhaften Blick“. Geparden oder Lhasa-Terriers begleiten sie auf ihren Spaziergängen durch Venedig, auf ihren pompösen Partys tragen die Salonlöwinnen Pfauenfederschirme, Gerüchte über Verhältnisse werden wahr oder erweisen sich als falsch, sexuelle Experimente erweitern Erfahrungshorizonte. Und immer gleiten die Gondeln über den Canal Grande.

Jana Revedin: Margherita. Aufbau Verlag, Berlin 2020.
Judith Mackrell: Der unvollendete Palazzo – Liebe, Leidenschaft und Kunst in Venedi. Aus dem Englischen von Andrea Ott und Susanne Hornfeck. Insel Verlag, Berlin 2019.

22.7.2020

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