Bertolt Brecht scheint mit dem Verlauf der Schachpartie zufrieden zu sein. In entspannter Haltung am Tisch sitzend, in der linken Hand eine Zigarre, wartet er offenbar geduldig darauf, welchen Zug Walter Benjamin, der ihm gegenüber in grübelnder Haltung über das Brett gebeugt ist, nun tun werde. Es ist eine Szene aus dem Sommer 1934, abgebildet auf einem im Berliner Brecht-Archiv verwahrten Foto. Entstanden ist die Aufnahme im Garten jenes Hauses, das der Schriftsteller damals auf der dänischen Insel Fünen bewohnte. Der Philosoph Benjamin, mit Brecht eng befreundet, war dort mehrmals für längere Zeit zu Gast. Täglich spielten die beiden ein oder zwei Partien Schach miteinander, und während Brecht, wie Zeitgenossen berichten, seine Züge meist rasch entschlossen setzte, war Benjamins Spielweise langsam und für den Gegner manchmal auch ein wenig zermürbend. „Ermattungstaktik war’s, was dir behagte / Am Schachtisch sitzend in des Birnbaums Schatten“, so schrieb Brecht später in Erinnerung an die Sommertage auf Fünen. Die Zeilen finden sich in dem Gedicht „An Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte“, das Brecht dem Freund widmete, der 1940 auf dem Weg in die Emigration Selbstmord beging.
Die Bedrohung durch den Nazi-Terror, Flucht und Exil bestimmten in jenen Jahren auch Bertolt Brechts Leben. Wurde er aufgrund seiner politischen Haltung im nationalsozialistischen Deutschland zunehmend schikaniert, so war seine Ehefrau, die Schauspielerin Helene Weigel, wegen ihrer jüdischen Herkunft höchst gefährdet. Als Ausweg blieb ihnen, wie so vielen anderen, nur die Flucht. Dass sie in Dänemark ab 1933 für mehrere Jahre eine sichere Bleibe fanden, ist der Schriftstellerin Karin Michaëlis zu verdanken. Heutzutage weitgehend vergessen war Michaëlis zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit zahlreichen Romanen international erfolgreich und vor allem im deutschsprachigen Raum sehr populär. In Wien, wo sie sich oft aufhielt, hatte sie damals einen großen Bekanntenkreis. Zu diesem gehörten auch zwei junge Künstlerinnen: die Schriftstellerin Maria Lazar und deren Freundin Helene Weigel, der Michaëlis 1917 zu einem ersten, für die weitere Karriere der angehenden Schauspielerin entscheidenden Vorsprechen in der Wiener Volksbühne verhalf.
Der Kontakt zwischen Lazar, Weigel und der mehr als zwei Jahrzehnte älteren Michaëlis blieb bestehen, und so wandte sich Maria Lazar 1933 auf der Suche nach einem Exil an die dänische Freundin. In einem Brief fragte sie an, ob Michaëlis sechs Personen eine Unterkunft zur Verfügung stellen könne. Bei den sechs handelte es sich, neben Maria Lazar um deren Tochter Judith, um Helene Weigel, Bertolt Brecht und die beiden Kinder des Paares, Barbara und Stefan. Karin Michaëlis sagte umgehend ihre Hilfe zu und konnte auch gleich eine Bleibe anbieten. Denn auf der kleinen Insel Thurø, die nur durch einen schmalen Sund von der südfünischen Hafenstadt Svendborg getrennt ist, besaß sie ein ausgedehntes Anwesen mit einer Villa und einigen Gartenhäusern. Dort nahm Michaëlis nicht nur die Lazars und die Familie Brecht-Weigel auf, sondern auch zahlreiche weitere Emigranten – so etwa den Philosophen Franz Mockrauer und dessen Ehefrau Johanna. Man fühlte sich, so schrieb Johanna Mockrauer in einem Brief, bei Michaëlis „gleich zu Hause“, denn die „kleine, korpulente, lebendige Frau“, die „permanent“ eine Zigarette „schief im Mundwinkel“ hatte und „oft wahnsinnig komisch, aber bezaubernd“ Deutsch sprach, sei von „mütterlicher Herzlichkeit“ gewesen. Bertolt Brecht und seine Familie wohnten einige Monate bei Karin Michaëlis, so lange, bis das alte und etwas desolate Fischerhaus, das Brecht kurz nach seiner Ankunft in Dänemark gekauft hatte, einigermaßen instand gesetzt war.
Das Gebäude, das heute noch genauso aussieht, wie auf den Fotos im Brecht-Archiv, befindet sich ein paar Kilometer westlich von Svendborg. Es ist ein etwas geduckt wirkendes weißes Fachwerkhaus mit schwarzen Verstrebungen, einem mächtigen Strohdach und einem großen Garten, von dem es nur einige wenige Schritte bis zur Küste sind. Skovsbostrand 8 lautet die Adresse – doch außer einem Briefkasten mit der Aufschrift „Brechts Hus“ findet man keine weiteren Hinweise darauf, dass hier eine Zeitlang einer der bedeutendsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts gelebt hat. Denn das Haus ist nicht öffentlich zugänglich, sondern wird von der Gemeinde Svendborg, in deren Besitz es sich heutzutage befindet, als temporäres Arbeitsrefugium an Künstler und Wissenschaftler vermietet. Wenn man Glück hat, ist das Haus gerade bewohnt und die Mieterin oder der Mieter gestatten einen Blick ins Innere – wenn nicht, dann entschädigt auf jeden Fall ein Spaziergang durch die Umgebung. Denn die Landschaft hier wirkt sehr idyllisch: Viel Grün gibt es da, kleine Wälder, sanfte Hügel, und von der Küste eröffnet sich ein Ausblick auf das sogenannte Südfünische Inselmeer, das aus mehr als fünfzig größeren und kleineren Inseln und zahllosen winzigen Holmen besteht.
Bertolt Brecht fühlte sich, wie seinen Briefen und Aufzeichnungen zu entnehmen ist, recht wohl im dänischen Exil, wo er ungestört arbeiten und ohne allzu große Schwierigkeiten seine künstlerischen und politischen Verbindungen aufrechterhalten konnte. „Geflüchtet unter das dänische Strohdach, Freunde / Verfolg ich euren Kampf“, beginnt daher auch das Titelgedicht seiner auf Fünen entstandenen „Svendborger Gedichte“. Und gegenüber George Grosz meinte er, dass Dänemark anderen Exilländern vorzuziehen sei, denn, so Brecht: „Nirgends sitzt du näher an der Heimat“. Grosz war einer jener zahlreichen Freunde und Bekannten, die Bertolt Brecht während der Jahre des Exils in Dänemark zu sich einlud. Eine Einladung, ihn auf Fünen zu besuchen, schickte Brecht im Sommer 1933 auch nach Wien an den Schriftsteller Karl Kraus, allerdings gelang es ihm nicht, diesen zu einer Reise in den Norden zu überreden. Interessant aber ist, wie Brecht in seinem Brief an Kraus sein dänisches Exil beschreibt. Er bezeichnet Svendborg als „kleines Städtchen, das gar nicht übel ist“, erwähnt Wälder und „Badegelegenheiten“ und fügt dann hinzu: „Und es ist ganz außerordentlich billig, viel billiger als in Österreich.“ Der Hinweis, dass man in Dänemark sehr billig leben könne, findet sich auch in Schreiben an andere Bekannte und ist aus heutiger Sicht – bedenkt man, dass Dänemark, bezogen auf das Preisniveau, eines der teuersten Länder der Welt ist – durchaus bemerkenswert.
Die sechs Jahre, die er in Dänemark verbrachte, waren für Bertolt Brecht schriftstellerisch sehr produktiv. Neben den „Svendborger Gedichten“ und zahlreichen Beiträgen für Emigrantenzeitschriften schrieb Brecht einige Theaterstücke und den „Dreigroschenroman“, der 1935, ein Jahr nach der deutschsprachigen Erstveröffentlichung, auch in einer dänischen Übersetzung erschien. Sie trug den der „Dreigroschenoper“ entnommenen Titel „Kun i Velstand har man det rart“ – „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ –, denn dies, so meinte Brecht, „müßte der dänischen Mentalität im allgemeinen liegen.“
Es sollte noch rund ein Jahrzehnt dauern, bis Bertolt Brecht wieder nach Deutschland zurückkehren konnte. Im Frühjahr 1939 verließ er gemeinsam mit seiner Familie Fünen und fand für einige Zeit ein neues Exil in Schweden, später dann in den USA. Nach Dänemark kam er nie mehr zurück. An sein Haus auf Fünen aber erinnerte er sich in dem Gedicht „An die dänische Zufluchtsstätte“ mit den Worten: „Sag, Haus, das zwischen Sund und Birnbaum steht: / Hat, den der Flüchtling einst dir eingemauert, / Der alte Satz DIE WAHRHEIT IST KONKRET / Der Bombenpläne Anfall überdauert?“. Brecht hatte den „alten Satz“ – ein Hegel-Zitat – auf einem Dachbalken in seinem Arbeitszimmer angebracht. Dort überdauerte er zwar den Krieg, nicht aber die Umgestaltungen und Renovierungen durch spätere Besitzer von „Brechts Hus“.
Dieser Text ist ein leicht adaptierter Ausschnitt aus dem Buch:
Barbara Denscher „Lesereise Dänemark. Von Wikingern und Brückenbauern“. Picus Verlag, Wien. Auch als E-Book erhältlich.
Fotos: B. Denscher