Eine Partnerschaft, die ganze 33 Jahre anhält, ist heutzutage eine Seltenheit. Insbesondere dann, wenn es sich dabei nicht um eine Liebesbeziehung, sondern um eine Geschäftsbeziehung handelt. Von so einer ungewöhnlichen Geschäftsbeziehung, zwischen der traditionell-konservativen Standesorganisation der Berliner Ärzteschaft und einem progressiven GrafikerInnen-Team, zeugt ein Sammelband mit dem Titel: „Med.in Germany. Berliner Ärzte BilDr.Buch“, der in der Berliner edition frölich erschienen ist.
Die ungewöhnliche Schreibweise des Buchtitels spiegelt einen Teil der Programmatik dieser Zusammenarbeit. Denn auf pointierte, plakativ-knappe, werbewirksam ins Auge fallende Art hat der Grafiker Roland Matticzk, der Gründer des Berliner Kollektivs „SEHSTERN Kommunikation und Design“, gemeinsam mit seinem Team immer wieder neu Sprachbilder und Bildersprachen in den Titelbildern der Mitgliederzeitschrift „Berliner Ärzte“ für die über 30.000 MedizinerInnen der deutschen Hauptstadt kombiniert. Matticzk bezeichnet sich selbst und seine Arbeit als „Ausdenker“.
Wenn man die über 400 sehr unterschiedlichen Titelbilder der Zeitschrift betrachtet, die zwischen 1988 und 2021 erschienen sind, dann kann man nur staunen, mit wie vielen Variationen von gestalterischen Möglichkeiten dabei gearbeitet wurde. In diesen mehr als 33 Jahren verwendeten die GrafikerInnen sehr unterschiedliche Sprachtypen, um damit, in spielerischen, bisweilen auch an Kalauer erinnernden Assoziationen, keine klischeehaften, sondern sehr differenzierte, witzig mehrdeutige „Aha-Effekte“ bei den BetrachterInnen auszulösen. Da finden sich Hingucker und Suchbilder, optische Täuschungen und Vexierbilder, Infografiken und Ikonografien, verfremdete Piktogramme, überraschende Redewendungen, Variationen von bekannten Emojis und vieles mehr.
So etwa ist die scheinbar unvermittelte Darstellung eines Abreißkalenders mit der Datumsangabe „24. September, Heilig Abend“ für sich allein verwirrend. Erst unter Hinzunahme des spezifischen Titelthemas dieser Ausgabe der Zeitschrift – nämlich „Frühgeburten“ – wird die Tragikomik dieser Collage schlagartig verständlich und setzt Gefühle und Gedanken frei. So bleibt die Thematik zugespitzt und treffend, aber nicht klischeehaft oder respektlos im Gedächtnis der BetrachterInnen.
Das Phänomen des „Burnouts“ wird anhand der Analogie zu einem energiearmen, schwarzen Computerbildschirm dargestellt. Die Betrachtung dieses „Leerstücks“ ruft Fragen hervor wie: „Wer hat vergessen das Gerät (heißt in diesem Fall den Arzt oder die Ärztin) wieder aufzuladen?“ Oder: „Gab es einen unvorhersehbaren Energieabfall?“
Zum Leitthema „Personaldecke– nach unten offen?“ verwendet Matticzk die Strichzeichnung eines Patienten, welcher unter einer zu knappen „Personaldecke“ liegt. Ohne viele Worte wird durch die doppeldeutige „Decken“-Metapher auf das unterversorgte Frieren des Patienten infolge fehlenden Pflegepersonals hingewiesen.
Medizinische Diagnostik hat zwar ihre Leitlinien und Symptomkataloge, aber oft hat sie auch noch die Attribute einer „Aufmerksamkeitskunst“, wobei bei allzu routiniertem „ärztlichen Blick“ leicht etwas übersehen wird. Hier gebrauchen die GrafikerInnen von SEHSTERN ein farbliches Suchbild von Punkten, aus deren Differenz sich erst langsam die Diagnose „HIV“ herausentwickelt. „Zu spät erkannt“ ist dazu der lakonische Zusatz. Der Titel des Heftes lautete: “Früherkennung“.
Heute wird es zusehends üblicher, dass sich (Fach-)ÄrztInnen über eine gewisse Zeit in keiner festen Anstellung binden, sondern sich „freischaffend“ von Agenturen an Krankenhäuser oder Arztpraxen für eine begrenzte Dauer „verleihen lassen“. Als die Zeitschrift sich dieser neuen Problematik widmete, griff das SEHSTERN-TEAM für das Titelblatt auf Analogien zu einer „digitalen Kontaktbörse“ zurück: „Call a Med“. Sicherlich traf diese provokante Darstellung auf sehr unterschiedliches Echo bei den ärztlichen LeserInnen, aber dies wurde als Erfolg gewertet, denn es beflügelte die Debatte.
Und der zeitgenössischen, in der Corona-Pandemie massiv gewachsenen Praxis der „Telemedizin“ widmet sich eine fast surrealistisch-absurde Titelcollage, bei der der untersuchende Arzt die Zunge des virtuellen, weit entfernten Patienten aus seinem Bildschirm heraus zu sich zieht (siehe Abbildung am Beginn dieses Beitrags).
Obwohl es sich bei den Titelbildern ursprünglich um medizinisch-ärztliche Themen handelte, können sie, unter künstlerischen und gestalterischen Aspekten, auch als Lehrbeispiele für andere Bereiche dienen. Die verhandelten Themen, wie „Markt, Geschäft, Gewinn, Ethik, Überlastung, Management, Organisation, Personalpolitik, Hierarchie“ usw. betreffen viele Berufs- und Lebensbereiche. Das sehr aufwendig gestaltete und ästhetisch ansprechende Buch ist daher auch LeserInnen aus anderen Berufen sehr zu empfehlen.
Der renommierte deutsche Grafiker Erik Spiekermann schreibt im Vorwort, dass es Roland Matticzk auf besondere Art und Weise gelungen sei, eine jeweils zutreffende Lösung und Mischung für die visuelle Darstellung der unterschiedlichen Thematiken zu finden. In einem ausführlichen Gespräch, am Ende des Katalogs, sprechen Matticzk und die Berliner Kunsthistorikerin Anita Kühnel über den Werdegang des Künstlers und die Entwicklung des Projekts, über seine Fallen und Schwierigkeiten, aber auch über den Spaß, der sich dabei immer wieder ergeben hat. Diese Passagen sind für alle Grafik-, Plakat-, Kunst- und Kommunikationsexperten von besonderem Interesse. Sie verdeutlichen, wie man Denkanstöße prägnant formulieren kann, sowie zu Mit- und Nachdenken über vorhandene (Ab-)Gründe so anregen kann, dass diese sofort ins Auge springen, mit einem Blick zu erfassen sind, “Diagnosen“ vermitteln können, oft unter Zuhilfenahme der engagierten Formel: „Unsinn. Macht. Sinn.“
Durch die Grafiken gelingt es, die BetrachterInnen immer wieder neu abzuholen, mal durch einen kritischen Kommentar oder dann durch einen bildnerischen Kalauer, einmal mit symbolischer Bildersprache, das andere Mal mit Ernst, fast wörtlich und buchstäblich, bisweilen verdreht – oder einfach „mein-deutig“. Rainer Maria Rilkes poetische Mahnung: „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus“ kommt in manchen Titelbildern zur Wirkung. Es geht in den Titelgestaltungen nie um simple Protestparolen, wie etwa: „Weg mit …“ oder „Kampf dem ….“, sondern sie arbeiten mit einem Augenzwinkern, mit subtilem Humor, spielen mit Metaphern und Assoziationen, verbinden soziales Engagement und Aufklärung mit Schmunzeln. Scheinbar Vertrautes wird in überraschende Zusammenhänge gesetzt. Es entstehen neue Zeichengestaltungen, unerwartete Spannungen zwischen Text und Bild – all das, was man sich von guten Werbetexten und ansprechender Plakatkunst erwartet darf.
64 ausgewählte „ExpertInnen-Kommentare“, u.a. von Karl Lauterbach, Eckart von Hirschhausen, Ellis Huber, Ulrike Faber, Arnulf Rating, Monika Schneider, Walter Momper und Hicran Tanriverdi, verweisen auf Entwicklung, Bedeutungen und Perspektiven der gezeigten Arbeiten.
Die lange Entwicklungsgeschichte der Arbeiten von Roland Matticzk und der Agentur SEHSTERN lässt sich ihren frühen Arbeiten nachzeichnen. Diese sind häufig im alternativen Aufbruchs-Milieu des (West-)Berlins der 1970/80-er Jahre entstanden. Dazu zählen ihre Plakate für die neu entstandene „Tageszeitung (TAZ)“, den „TUNIX-Kongress“, die „Gesundheitstage“ oder den „Tempodrom-Zirkus“. Einige dieser Initiativen sind heute etablierter Bestandteil der Berliner Kulturszene.
Fast paradigmatisch steht für diese frühe Zeit von SEHSTERN das Plakat der „Apotheke“ (1982), welches heute schon einen gewissen Kultstatus als Sammlerobjekt hat. Immer noch, so berichtet Roland Matticzk, erreichen ihn Anfragen nach dem Plakat, wenn es etwa Kinder ihren Eltern noch einmal zum Geburtstag schenken wollen, weil das Vorgängerplakat über die Jahre gealtert und vergilbt ist (zum Glück verfügt Matticzk noch über eine Restauflage).
Der Sammelband „Med. in Germany“ ist aufwendig und ansprechend gestaltet. Er ist witzig und inspirierend, zeigt wie man intelligent, klug und nachhaltig neue Inhalte wirkungsvoll zur Diskussion bringen kann. Insgesamt ein ungewöhnliches Buch, dessen Lektüre Spaß macht und das zeigt, wie positiv verstandener UNSINN dazu beitragen kann, gegenüber festgefahrenen MACHTverhältnissen neuen SINN zu entwickeln.
Roland Matticzk (Hg.): Med. in Germany. Berliner Ärzte BilDr.Buch. edition frölich, Berlin 2022.
Herrn Roland Matticzk, rm@sehstern.de, wird für die Bereitstellung der Abbildungen gedankt.
Link zu „SEHSTERN Kommunikation und Design“.
7.7.2022