„Immer wieder seit dem 19. Jahrhundert haben sich Menschen auf das Abenteuer eingelassen, ihr Leben, zumindest für eine gewisse Zeit, auf eine komplett neue Grundlage zu stellen. Bezeichnenderweise waren es in vielen Fällen Künstlerinnen und Künstler, die den Neuanfang an einem anderen Ort wagten.“ Das schreibt der Schweizer Historiker Andreas Schwab in der Einleitung zu seinem Buch „Zeit der Aussteiger“. Darin unternimmt er, wie es der Untertitel ankündigt, „Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità“. Der zeitliche Rahmen, den Schwab dabei setzt, reicht von 1850 bis 1950, unter den „Traumorten“, die er besucht, finden sich – neben Barbizon, jener kleinen Gemeinde am Rande des Waldes von Fontainebleau, und dem bei Ascona gelegenen Monte Verità – auch das bretonische Pont-Aven, Skagen an der Nordspitze Dänemarks, das norddeutsche Worpswede, Altaussee im steirischen Salzkammergut, weiters Capri, Taormina, Tanger und Korfu.
Andreas Schwab hat sich intensiv mit der Geschichte alternativer Lebensstile und Gemeinschaftsformen beschäftigt. Bereits seine Dissertation war dem Monte Verità gewidmet, und er hat seither eine ganze Reihe von themenspezifischen Ausstellungen gestaltet.
Im aktuellen Buch berichtet er unter anderem darüber, wie Aussteiger:innen stets auch ihre Umgebung erkundeten, sich dafür interessierten, wie sich das Leben der Einheimischen gestaltete, und wie sie dabei ländliche Kulturen für sich entdeckten. Manche sammelten Volkssagen, andere dokumentierten die Architektur von Bauernhäusern, zeichneten lokale Liedformen auf, bemühten sich darum, dass gefährdete oder bereits verschwundene Traditionen neu belebt wurden. Mit einem Wort: die Künstler:innen popularisierten die Volkskultur.
Andreas Schwab meint, dass es eine Art „gegenkulturelles Netzwerk von Künstlerinnen und Künstlern im Zeitraum von 1850 bis in die 1950er Jahre“ gegeben habe, und daher hat er sich als Gliederungsprinzip für die zehn Traumorte die Form eines Reigens ausgesucht. Arthur Schnitzlers Theaterstück „Der Reigen“ war ihm da ein Vorbild, denn jedem Ort ist eine Persönlichkeit zugeordnet, die dann jeweils die Verbindung zum nächsten bildet: „Zu Beginn führt uns Jean-François Millet nach Barbizon, der Mutter der Künstlerkolonien Europas. Von dort nimmt uns Ida Gerhardi nach Pont-Aven mit, wo wir auf den Maler P. S. Krøyer treffen, mit dem wir nach Skagen weiterreisen, bis wir am Schluss auf dem Monte Verità angelangen, wo uns der ‚wilde Denker‘ Harald Szeemann in Empfang nimmt.“ Mit im Reigen sind als Protagonist:innen außerdem auch Charlotte Bara, Truman Capote, Carl und Gerhard Hauptmann, Alma Mahler-Werfel, Arthur Schnitzler, John Singer Sargent und Marianne Stokes, dazu kommen dann noch an jedem Ort zahlreiche weitere Aussteiger:innen.
Den Begriff Kunst will Schwab weit gefasst sehen: Er bezieht da Maler:innen, Schriftsteller:innen, Musiker:innen, Tänzer:innen und – für ihn ganz besonders wichtig – Lebenskünstler:innen mit ein. Und er lädt zu einer Spurensuche, zu einem Flanieren in den ehemaligen Künstlerkolonien ein: „Wie bei einem Palimpsest überlagern sich die Zeiten an einem Ort, wodurch den realen Schauplätzen eine besondere Bedeutung für die historische Erkenntnis zukommt. Noch in seiner heutigen Gestalt vermittelt der reale Ort Ansichten, Stimmungen und Emotionen, in denen die frühere Erfahrung der Künstler spürbar wird.“
Als Beispiel soll – eines für alle zehn – Korfu dienen. Da hilft die eigene Anschauung, da helfen die Fotografien. Und das wäre gleich ein Stichwort: Martin Heidegger, dem es auf Korfu – und eigentlich in ganz Griechenland – nicht gefallen hat, mokierte sich über die fotografierenden Touristen: „Sie werfen ihr Gedächtnis weg in das technisch hergestellte Bild!“. Darüber kann man nachdenken. Andererseits kommen beim Betrachten der Bilder im Nachhinein so viele Erinnerungen wieder hoch, nicht nur visuelle, es stellen sich auch Gerüche und Geräusche wieder her. So etwa streifte Johann Victor Krämer, ein Wiener Künstler, der in Taormina und Tanger ebenfalls im Aussteiger-Reigen zu finden ist, auch durch Korfu mit der Kamera und malte dann seine Bilder nach den Fotografien.
Die berühmteste Aussteigerin auf Korfu war aber sicher Kaiserin Elisabeth. Sie ließ 1888 das Achilleion, eine Prachtvilla mit 128 Zimmern, erbauen. Für Henry Miller war das, so weiß Andreas Schwab, der schlimmste Kitsch, den er je gesehen hatte, ein „Irrenhaus“, das „mehr mit Stuttgart gemein“ habe, als „mit dem antiken Griechenland“.
Zentrale Reigen-Figur auf Korfu ist in Andreas Schwabs Buch der Maler John Singer Sargent. Auf der Insel begegnet man aber auch Hugo von Hofmannsthal, dem es dort allerdings nicht besonders gefiel. Ganz im Gegensatz zum englischen Schriftsteller Lawrence Durrell. Dieser führte in den 1930er Jahren gemeinsam mit seiner Frau auf Korfu ein erfülltes Aussteigerleben, über das er später in seinem Reisebuch „Prospero’s Cell: A guide to the landscape and manners of the island of Corcyra“ berichtete (der Titel der deutschen Ausgabe lautet: „Schwarze Oliven. Korfu, Insel der Phäaken“).
Für seine „Reise zu den Künstlerkolonien“ konnte Andreas Schwab auf eine Vielzahl von Quellen, darunter Tagebücher und Briefe, literarische Werke und Musikpartituren, Gemälde, Grafiken, Skizzen und Fotos, zurückgreifen. Reiseführer will er mit seinem Buch nicht ersetzen, aber er regt an, das jeweils entsprechende Kapitel vor oder nach einer Reise zu lesen.
Sein umfassendes Wissen verpackt Schwab unaufdringlich in Form von mal freundlichen, öfters ironischen, hin und wieder aber auch kritischen Plaudereien, würzt dazwischen immer wieder mit intimen Details aus dem Zusammenleben der Künstler:innen und weiß von zarten Romanzen, aber auch von dramatischen Affären zu berichten. Ganz besonders zum Flair des Buches tragen natürlich auch die Illustrationen bei: Das sind alte Fotos von Landschaften, Porträts der Austeiger:innen, sowie Gemälde, Skizzen und Zeichnungen.
Andreas Schwab: Zeit der Aussteiger. Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità. Verlag C.H. Beck, München 2021.
8.10.2021