„Naive Gemüter könnten diese schlanke Gold- oder Silberröhre für einen unschuldigen Bleistift halten, einen von der Art, die, wenn nicht gebraucht, wieder in der Hülle verschwinden.“ In Wirklichkeit aber, so war aus dem Washingtoner „Evening Star“ vom 12. November 1911 zu erfahren, handle es sich um etwas wesentlich Raffinierteres, nämlich um einen Stift aus weichem Lippenrouge – und das war eine kosmetische Novität. Denn Lippenstifte in Metallhülsen gab es damals erst seit kurzem, den ersten hatte 1910 die französische Firma Guerlain auf den Markt gebracht, und dieser Prototyp des „modernen“ Lippenstiftes wurde rasch zum internationalen Erfolg, „which more women than one would believe use now“, so der „Evening Star“.
Die Geschichte des künstlichen Lippenrots – ob nun in Form von Pasten, Pudern oder diversen Flüssigkeiten aufgetragen – reicht jedoch viel weiter zurück und ist eines der Themen, mit denen sich die amerikanische Journalistin und Sachbuchautorin Rachel Felder in ihrem Buch „Red Lipstick. An Ode to a Beauty Icon“ beschäftigt. So etwa weiß sie zu berichten, dass sich im alten Ägypten nicht nur die Frauen, sondern vermutlich auch die Männer die Lippen bemalten, und zwar entweder mit Farben aus rotem Ocker oder solchen, die aus roten Käfern hergestellt wurden (was wesentlich teurer und vermutlich den Pharaonenfamilien vorbehalten war).
Heutzutage ist der Lippenstift das weltweit populärste und meistverkaufte aller Schminkprodukte. Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende aber wurde das Rot-Färben der Lippen immer wieder unterschiedlich bewertet, wobei der Bogen von selbstverständlicher Akzeptanz bis zu vehementer Ablehnung reicht und durchaus auch ein Indiz für den Status von Frauen in den verschiedenen Gesellschaften ist. Weit verbreitet (allerdings auf die wohlhabenden Gesellschaftsschichten beschränkt) war das Schminken zur Zeit der Renaissance und des Barock. So etwa waren rot bemalte Lippen – als Kontrast zur weiß gepuderten Gesichtshaut – der „Signature Look“ der englischen Königin Elisabeth I. (1533–1603). Allerdings könnte die Vorliebe für starkes Make-up schuld am Tod der Monarchin gewesen sein. Denn vermutlich starb sie an einer Blutvergiftung, die durch die lange und intensive Verwendung von bleihaltigen Kosmetika hervorgerufen worden war.
Die Signalfarbe Rot ist auch auf den Lippen ein Zeichen von Kraft, Selbstbewusstsein und bisweilen Protest – so etwa beim Kampf um das Frauenwahlrecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „In fact, red lipstick was adopted as a part of the suffragette’s de facto uniform”, so Rachel Felder.
Ausführlich geht sie auch auf die Verwendung von Lippenstift während des Zweiten Weltkrieges ein. Denn während im nationalsozialistischen Deutschland künstliches Lippenrot – wie überhaupt Schminke – als „unarisch“ verpönt war, sprach man in Großbritannien und den USA bei der Bewerbung von Lippenstiften ganz bewusst Patriotismus und Engagement im Kriegsdienst an. Das kam auch in den Bezeichnungen zum Ausdruck, die man den Lippenstiftfarben in jener Zeit gab. Die Firma Helena Rubinstein etwa brachte 1939 einen Lippenstift in „Regimental Red“ heraus und Elizabeth Arden 1941 „Victory Red“. Die britische Kosmetikfirma Cyclax bewarb ihren Lippenstift „Auxiliary Red“ als „the lipstick for the service women”.
In ihrem reich bebilderten Buch beschäftigt sich Rachel Felder unter anderem mit dem Einsatz von Lippenstift im Film, und sie stellt auch eine Reihe von prominenten Lippenstift-Benutzerinnen vor: Von der Schauspielerin Sarah Bernhardt, die Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich dazu beitrug, dass geschminkte Lippen nicht nur auf der Bühne akzeptiert wurden, über die Modeschöpferin Coco Chanel, deren erste, 1924 herausgebrachte Make-up-Kollektion aus drei verschiedenfarbigen Lippenstiften bestand, bis zur Designerin Paloma Picasso, deren Markenzeichen die stark rot geschminkten Lippen sind.
Rachel Felder: Red Lipstick. An Ode to a Beauty Icon. Harper Collins Publishers, New York 2019.
8.2.2020