„Oktober in Rimini“ – so lautet der Titel der deutschen Fassung des italienischen Filmklassikers „La prima notte di quiete“ mit Alain Delon und Sonia Petrovna in den Hauptrollen. Regisseur Valerio Zurlini hat in dem Film gesellschaftliches Außenseitertum vor dem Hintergrund der provinziellen Tristesse des prominenten Badeortes im Spätherbst angesiedelt. Das um einiges nördlichere Bibione, zwischen Caorle und Lignano gelegen, wirkt außerhalb der Saison weit weniger unfreundlich als das herbstliche Rimini des Filmes.
Der 3.000-Einwohner-Ort, der in der Hochsaison bis zu 100.000 Urlaubsgäste gleichzeitig beherbergen kann, erinnert im November in seiner seltsamen Stille weniger an den genannten Film als an den magischen Realismus der Gemälde von Giorgio de Chirico. Die menschenleeren Straßen und Plätze haben etwas von dessen „Pittura metafisica“ und lassen die Orte wie Bühnenbilder wirken.
Im klaren Herbstlicht erscheinen die Farben der Fassaden noch kräftiger als in der prallen Sonne des Hochsommers. Durch die heruntergelassenen Fensterläden bekommen die Gebäude, meist Hotels oder Appartementhäuser, etwas eigenartig Skulpturales. Die Scheiben der Geschäfte sind innen oft mit Plakaten zugeklebt, surreal wirkende Schaufensterpuppen warten auf ihren Einsatz im nächsten Jahr.
Es gibt einige Geschäfte und Lokale, die geöffnet haben, doch man muss sie suchen. Die auch nach einer anstrengenden Saison immer noch freundlichen Einwohner geben gerne Auskunft, und man findet sogar Quartier in einem ganzjährig geöffneten Hotel. Der Strand ist – für alle die ihn zumindest von Bildern aus der Hauptsaison her kennen – unwirklich leer. Hie und da werden noch Sonnenschirme gereinigt oder Liegestühle und Kabinen winterfest gemacht.
Man kann uneingeschränkt über den Sandstrand flanieren – und viel lesen. Peter Turrini zum Beispiel, der in den 1960er Jahren Barmann, Hotelsekretär und Hoteldirektor in Bibione war und anlässlich einer Neubearbeitung seines Stückes „Die Wirtin“ im Jahr 2009 den Ort der Handlung in das Bibione der 1950er Jahre verlegte.
In einem Interview mit der Tageszeitung „Die Presse“ beschrieb Turrini die Entwicklung des Badeortes von den Anfängen bis in die 1950er Jahre: „Bald befanden sich im Sommer ein paar hunderttausend Menschen in Bibione und Ende des Sommers waren sie alle wieder weg. Einige hundert Leute blieben zurück: Barbesitzer, Kellner, Hoteldirektoren, Ehefrauen, Eisdamen. Sie verschanzten sich in kleinen, überhitzten Cafés, dort waren auch alle Arten von Schurken, Glücksrittern, Betrügern, ja sogar verarmte Adelige aus Venedig, die versuchten, sich Frauen anzulachen, die nach Geld aussahen, das sie im Sommer verdient hatten.“ In den coolen 2010er Jahren gibt es diese pittoreske Szenerie der 1950er nicht mehr, im Hotel treffen einander, elegant gekleidet, italienische Bankangestellte zum Fachseminar…
Aktualisierte Fassung 4.11.2024 (Originalbeitrag 19.11.2020). Fotos: B. Denscher