GAUMENFREUDEN LATEINAMERIKAS

Als Verlagslektorin und Herausgeberin hat sich Michi Strausfeld große Verdienste um die Vermittlung lateinamerikanischer Literatur im deutschen Sprachraum erworben. Mit ihrem neuesten Buch will sie nun auch an den kulinarischen Spezialitäten Lateinamerikas teilhaben lassen und das immer in Verbindung mit kulturhistorisch Interessantem. Der im Verlag Klaus Wagenbach erschienene Band trägt den Titel „Gaumenfreuden“, und im Vorwort kündigt Strausfeld eine „Neue Welt für den Gaumen“ an und einen „bescheidenen Versuch, die Entstehung, Entwicklung und die Fusionen zu skizzieren, die heute zur Wertschätzung insbesondere der mexikanischen Küche (Weltkulturerbe!) geführt haben.“ Sie belässt es aber nicht nur bei Mexiko, sie führt auch in die kulinarische Kulturgeschichte Perus und Brasiliens ein. Die passenden Rezepte dazu steuert Sabine Hueck bei, die als Tochter deutschsprachiger Auswanderer im brasilianischen São Paulo aufgewachsen ist und in Berlin ein „Atelier Culináro“ führt.

Requesón-Frischkäse-Tostadas und Fisch-Ceviche-Tostadas sind typische Gerichte der Küstenregion im mexikanischen Bundesstaat Michoacán (Foto: Wikimedia Commons / Josuemirandazepeda)
Requesón-Frischkäse-Tostadas und Fisch-Ceviche-Tostadas sind typische Gerichte der Küstenregion im mexikanischen Bundesstaat Michoacán (Foto: Wikimedia Commons / Josuemirandazepeda, CC BY-SA 4.0)

Zu Beginn also Mexiko: Da leitet Strausfeld mit Geschichte ein, lässt Alte und Neue Welt aufeinanderprallen. Die Essgewohnheiten waren ja grundverschieden, als die Spanier Mexiko eroberten. Aber schon vor rund fünfhundert Jahren hielten die Mexikaner im „Codex Mendoza“, einem um das Jahr 1541 geschaffenen Meisterwerk aztekisch-spanischer Buchkultur, ihr klares Verständnis von guter Ernährung fest. So etwa ist in dem Werk, das wichtige Einblicke in die Geschichte, Kultur und Religion der Azteken vermittelt und sich in der Bodleian Library in Oxford befindet, bereits das berühmte mexikanische Fladenbrot, die Tortilla, zu finden: „Kinder bis zu drei Jahren bekommen eine halbe Tortilla, den Vier- und Fünfjährigen stand eine ganze zu, ab dreizehn Jahren betrug ihre Ration zwei Tortillas.“

Herstellung von Tortillas auf einer Abbildung aus dem Codex Mendoza (Folio 60r. Foto © Bodleian Libraries, University of Oxford, CC BY-NC 4.0)
Herstellung von Tortillas auf einer Abbildung aus dem Codex Mendoza (Foto © Bodleian Libraries, University of Oxford, CC BY-NC 4.0)

Michi Strausfeld schreibt von der „Mestizierung“ als einer, bezogen auf die Kulinarik, verbindenden Synthese der anfänglich so gegensätzlichen Esskulturen, und sie berichtet von den ersten Eindrücken, die zum Beispiel der Kakao auf die Europäer ausübte: „Ich nehme Kakao. Ich befeuchte meine Lippen. Ich erfrische mich.“ Und sie kommt zum kulinarischen Höhepunkt und Symbol mexikanischer Küche, dem Mole, einer Sauce, die aus 20 Ingredienzien, darunter Zartbitterschokolade, besteht. „Mole poblano con pollo“, ein Hähnchen mit Schokolade und Chilisauce, ist dann das dazu passende Gericht.

Strausfeld führt durch die Geschichte Mexikos, erwähnt die Rolle der Klöster bei der Entwicklung der Speisen, kommt an passender Stelle zu Mais, Chili, Bohnen, Kürbis und Avocados. Und sie schreibt auch von der berauschenden Wirkung des vergorenen Agavensaftes, Pulque genannt, mit dem die Eroberer fertig werden mussten, denn selbst „Quezalcoatl, der gute der beiden Obergötter, betrank sich eines Tages mit Pulque“, erzählt Egon Erwin Kisch, „der rasende Reporter“, der einige Zeit seines Exils in den 1940er Jahren in Mexiko verbrachte.

Eine persönliche Anmerkung sei noch gestattet, weil davon bei Strausfeld nicht so oft die Rede ist: Tequila, die bei uns wahrscheinlich bekannteste Form des Mezcal, eines Agaven-Brands aus einer ganz bestimmten Region Mexikos, bekommt man in Europa selten in seiner reinen Form, sondern mit Zuckerrohrschnaps versetzt. „100% Agave Azul“ ist sehr teuer, da die Produktion äußerst begrenzt ist, auch weil die Pflanzen sieben Jahre wachsen müssen, bis sie reif sind. Ich durfte aber an einer Tequila-Verkostung am Catemaco-See teilnehmen. Und dort lernte ich erst die wahren Qualitäten dieses Getränks kennen. Denn reifer Tequila kann bis zu 600 Aromen enthalten, bei Cognac hingegen kommt man auf nur 300, bei Whisky auf 150. Diese vielen Aromen entwickeln sich aus den Basisaromen der Agaven bei der Gärung, der Destillation und schließlich bei der Reduktion auf Trinkstärke, wobei die Wasserqualität eine große Rolle spielt.

Seezungen-Cebiche (Foto: Wikimedia Commons / Yogma, CC BY 2.0)
Seezungen-Ceviche (Foto: Wikimedia Commons / Yogma, CC BY 2.0)

Mexikanische Speisen sind in Mitteleuropa ja relativ geläufig, aber würde man nach denen Perus gefragt werden, müsste man wahrscheinlich passen. Dabei kommt die Kartoffel aus Peru, und sie spielt dort in ihren zahllosen Varianten eine wichtige Rolle. Immerhin sind in den peruanischen Anden weit mehr als 2.000 Kartoffelsorten heimisch. Auch Coca und Quinoa kommen aus Peru, und ein peruanisches Nationalgericht ist Ceviche: „Roher, in Limettensaft marinierter Fisch mit Zwiebeln, Chili und Koriander.“ Nach einem kurzen alkoholischen Abstecher zum Pisco Sour – einem Cocktail basierend auf Traubenschnaps, benannt nach der peruanischen Stadt Pisco – stellt Strausfeld fest, dass, wie überall auf der Erde, die unterschiedlichsten Einflüsse die Küche des Landes prägen: indigene und afrikanische Küche, kreolische, italienische, japanische und chinesische.

Den Abschluss der kulinarischen Kulturgeschichte Lateinamerikas bildet Brasilien, 1500 von den Portugiesen entdeckt, waren diese vorerst einmal enttäuscht, weil da keine Tempel und Paläste zu sehen, keine Schätze und kein Gold zu finden waren. Mittlerweile gibt es sechs regionale Küchen in Brasilien, die dann auch noch von italienischen und japanischen kulinarischen Traditionen beeinflusst werden. Und Strausfeld wäre nicht Literaturvermittlerin Lateinamerikas, wenn sie nicht auf den einen oder anderen Roman hinwiese, in dem das Kulinarische eine große Rolle spielt, zum Beispiel „Dona Flor und ihre zwei Ehemänner“ von Jorge Amado oder „Brasilien, Brasilien“ von João Ubaldo Ribeiro.

Ein Kapitel im Brasilien-Abschnitt widmet die Autorin der Küche von Salvador de Bahia. Zweite persönliche Bemerkung: Es ist dies eine der schönsten Städte, die ich je gesehen habe, und ich durfte auch bei der Zubereitung eines typischen Gerichtes, der „Moqueca de peixe“, einem Fischeintopf, zusehen. Was bei dieser Speise gleich einmal auffällt, ist die charakteristische orangene Färbung, hervorgerufen durch die Verwendung von Palmöl.

Moqueca de peixe (Foto © K. Holzer)

Michi Strausfeld schließt ihr Büchlein hoffnungsvoll ab: Die Erforschung der Küchen Lateinamerikas steht noch weitgehend an ihren Anfängen, wird aber durch die immense Nachfrage nach entsprechenden Kochbüchern und die Präsenz lateinamerikanischer Fernsehköch*innen befeuert.

Michi Strausfeld: Gaumenfreuden. Eine kulinarische Kulturgeschichte Lateinamerikas mit Rezepten von Sabine Hueck. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023.

Anmerkung: Die Abbildungen in diesem Beitrag stellen eine thematische Ergänzung dar und stammen nicht aus dem Buch „Gaumenfreuden“. Bildredaktion: Flaneurin

20.5.2023

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