Die Geschichte des Fahrrades als Individualverkehrsmittel begann Mitte des 19. Jahrhunderts – zunächst mit spektakulären Hochrädern, dann, ab den 1870ern, mit Niederrädern, die den heutigen Modellen schon recht ähnlich waren. Doch egal ob hoch oder nieder: Fahrradfahren war in jedem Fall Männersache. Wenn Frauen in die Pedale traten, so wurde dies oft als unschicklich, ja sogar als unmoralisch verurteilt. Aber es gab auch Zeitgenossen, die erkannten, dass das Radfahren einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Befreiung der Frauen aus starren Normen und gesellschaftlichen Verhaltenszwängen leistete. So etwa der Publizist Leon Sachs, der am 7. Januar 1898 in der Zeitschrift „Sport im Bild“ einen Aufsatz mit dem Titel „Der Einfluss des Fahrrades auf die Emanzipation der Frau“ veröffentlichte:
„Die endliche Verbreitung des Fahrrades unter den Frauen aller gesellschaftlichen Schichten hat die Entwicklung des Selbständigkeitssinnes bedeutend gefördert, weil die Benutzung dieses neuesten Beförderungsmittels für die Frau mit einem Kampf gegen alte Vorurteile verbunden ist und außerdem auch bei einem jeden ein Gefühl der Unabhängigkeit und Überlegenheit den anderen Beförderungsmitteln gegenüber wachruft.
Wie viele Schwierigkeiten hat die weibliche Radfahrkandidatin nicht gleich am Anfang zu überwinden! Die ängstliche Mutter, der besorgte Bruder, der selbst radelt und zu wissen glaubt, was radelnden Mädchen alles zustoßen kann, wehren sich zunächst mit aller Kraft gegen die neueste Passion ihrer Schutzbefohlenen. Die philiströsen Bekannten sind auch dagegen wegen der durchaus indezenten Neuerungen, die dann an der Kleidung vorgenommen werden müssten. Zum mindesten doch den Rock nur bis zu den Knöcheln! Das geht keinesfalls, dass man am unteren Saume des Kleides so viel spart, bietet sich doch bei den oberen Teilen desselben für solche Sparsamkeitsgelüste Gelegenheit genug!
Und sind endlich alle diese Bedenken von der energischen Radlerin siegreich überwunden, hat sie nach irgend einer „gesetzlich geschützten“ Methode, nach der ein Fallen der Schülerin unmöglich ist, das Fahren erlernt, und unternimmt dann die heiß ersehnten kleinen Ausflüge, so sieht sie sich neuen Schwierigkeiten gegenüber. Wer an den radelnden Schönen nicht ohne Teilnahme vorübergeht, wird bemerken, dass selbst den sogenannten besseren Ständen angehörige Personen sich über die vorüberhuschende Radfahrerin lustig machen und ihr gar Worte nachrufen, die wohl in keinem Lexikon des guten Tons zu finden sind. Aber über solche kleinen „Annehmlichkeiten“ des Radsports setzen sich gar bald auch diejenigen Frauen hinweg, die sich bisher ängstlich hüteten, in den Augen ihrer Mitmenschen Anstoß zu erregen.
Wenn so der stete Kampf gegen Vorurteile bei der Frau schon einen hohen Grad der Selbständigkeit erzeugt, so geschieht dies in gleichem Maße infolge der Unabhängigkeit, die man beim Radfahren den anderen Transportmitteln gegenüber verspürt. Denn ganz abgesehen von der bedeutenden Geschwindigkeit, die man zu Rad entfalten kann, gibt es selbst bei unserem entwickelten Straßenbahnwesen eine Unmenge von Zielen, an welche man nicht direkt hingefahren werden kann, und die Droschkenpferde sind wohl noch gebrechlicher, als das gebrechlichste Stahlross der untergeordnetsten Fabrik.
Und hat man die zivilisierten Grenzen mit Straßenbahnschienen und Droschken verlassen, ist man erst ganz auf sein liebes Rad und die eigene Kraft angewiesen, so empfindet man ein Gefühl der Selbständigkeit, wie man es sonst nicht Gelegenheit hat, kennenzulernen. Selbst demjenigen gegenüber, der den großen Bruder, die Eisenbahn, benutzt, fühlt man sich unabhängig, weil man sich nicht nach der Lage der Bahnhöfe oder irgend einem Fahrplane zu richten hat, sondern von seinem Hause abfährt, zu welcher Zeit es einem beliebt.
Es ließen sich noch viele solcher Beispiele häufen, aus denen ersichtlich ist, dass das Radfahren insbesondere die Frau zu großer Selbständigkeit erzieht. Es ist zu hoffen, dass sich unser modernstes Verkehrsmittel gleich allen anderen allgemein einbürgert ohne Unterschied des Geschlechts.“
Aus: Sport im Bild, Berlin-Wien, 7.1.1898. Die Orthografie wurde dem aktuellen Standard angepasst.