Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) ist einer d e r Künstler des deutschen Expressionismus. Ihm hat der Verlag Hirmer eine umfassende Monografie gewidmet, in der das Schaffen des Künstlers in fünf wichtigen biografischen und künstlerischen Stationen dargestellt wird. Diese fünf Stationen sind Kirchners Atelier in Dresden, Berliner Straßenszenen, die Idylle auf der Ostseeinsel Fehmarn, die psychische Krise des Künstlers, die in Selbstbildnissen ihren Ausdruck findet, und schließlich sein Aufenthalt in Davos.
Unter dem Titel „Zarathustra im Transit“ gibt Dagmar Lott eine Übersicht zur Biografie Ernst Ludwig Kirchners, in der er als „Prophet“ und „Unzeitgemäßer“ beschrieben wird. Lott beginnt mit dem Selbstmord des 58-Jährigen in Davos. Die Angst, dass das nationalsozialistische Deutschland die Schweiz besetzen würden, war einer der Gründe dafür.
Nietzsche hat Kirchner stark beeinflusst, ein Zitat aus „Also sprach Zarathustra“ –nämlich: „Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist“ – gab der Dresdner Künstlergruppe „Brücke“ den Namen, zu der sich Kirchner mit Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rotluff 1905 zusammenschloss. 1912, nach Kirchners Übersiedlung nach Berlin, löste sich die Gruppe jedoch auf, weil Kirchner doch zu sehr auf der Anerkennung seiner individuellen Leistungen beharrte und daraus einen Führungsanspruch ableitete.
Mit seiner Freundin Erna Schilling, die ihm Muse und Modell war, erlebte Kirchner auf der Ostseeinsel Fehmarn das, was für andere Künstler dieser Zeit (Gauguin, Pechstein, Nolde) die Südsee war: „sinnliches und unmittelbares Naturerleben fernab der Zivilisation.“ Zu Beginn des Ersten Weltkriegs stürzte er in eine existentielle Krise, auch hervorgerufen durch Abhängigkeit von Schlafmitteln, Morphium und Absinth. Bemerkenswert ist, dass er aus dieser Krise eindringliche Selbstbildnisse schuf. Hilfe kam von Freunden, die ihm einen Ortswechsel nach Davos ermöglichten: „Es ist wunderbar hier oben. Berge und Menschen haben eine reinigende Wirkung auf mich.“ Biografin Dagmar Lott stellt fest, dass dort, in den Bergen, aus dem sinnlichen Bohemien ein vergeistigter Maler menschlicher Symbole wurde, sein Werk jedoch von der breiten Öffentlichkeit weiterhin abgelehnt wurde und auch bei Sammlern und Museen keinen Anklang fand. Schließlich beschlagnahmten die Nationalsozialisten 600 seiner Arbeiten.
Jedes der fünf Kapitel des Buches wird mit den zeitlich dazugehörenden Bildern illustriert und diese werden auch analysiert. So schreibt Aya Soika, Professorin für Kunstgeschichte in Berlin mit Forschungsschwerpunkt Expressionismus, in ihrem Beitrag „Kirchner auf Fehmarn“, dass dort hundert Gemälde, gut die Hälfte von Kirchners gesamter Bildproduktion dieser Jahre, entstanden seien. Sie geht auf die künstlerische Entwicklung ein, die der Maler dort durchgemacht hatte, und zitiert ihn: „Hier lernte ich die letzte Einheit von Mensch und Natur gestalten (…) die Farben wurden milder und reicher, die Formen strenger und ferner von der Naturform.“ Insgesamt gibt das Buch mit seinen vielen Abbildungen sowohl einen großen Überblick über Kirchners Schaffen als auch detaillierte Erläuterungen zu seiner Malerei.
Ulrich Luckhardt (Hg.): Ernst Ludwig Kirchner. Stationen. Hirmer Verlag, München 2023.
12.6.2023