Mit „Father Brown“ schuf der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton (1874–1936) eine der international bekanntesten Detektivfiguren. Der originelle Pfarrer, der jeden noch so schwierigen Fall mit außergewöhnlichem kriminalistischen Spürsinn zu lösen weiß, steht im Mittelpunkt von insgesamt 53 Erzählungen, die zwischen 1910 und 1936 in Zeitschriften und Sammelbänden erschienen. Doch schon zuvor hatte sich Chesterton, der auch ein erfolgreicher Essayist war, mit dem Kriminalgenre beschäftigt. Seine Überlegungen dazu formulierte er 1902 in dem Text „A Defence of Detective Stories“ – „Eine Verteidigung der Detektivgeschichten“:
„Beim Versuch, den wahren psychologischen Grund für die Beliebtheit von Detektivgeschichten zu finden, müssen wir uns von vielen bloßen Klischees befreien. Es ist zum Beispiel nicht wahr, dass die Bevölkerung schlechte Literatur der guten vorzieht und Detektivgeschichten deshalb schätzt, weil sie schlechte Literatur sind. Der bloße Mangel an künstlerischer Subtilität macht ein Buch nicht populär. Bradshaws Eisenbahn-Kursbuch enthält kaum glanzvolle psychologische Komik, dennoch wird es nicht an Winterabenden laut vorgelesen. Wenn Detektivgeschichten mit mehr Begeisterung gelesen werden als Eisenbahn-Kursbücher, dann liegt das sicherlich daran, dass sie kunstvoller sind. Viele gute Bücher sind zum Glück beliebt gewesen; viele schlechte Bücher waren, was ein noch größeres Glück ist, unbeliebt. Eine gute Detektivgeschichte wäre wahrscheinlich sogar noch beliebter als eine schlechte. Das Problem dabei ist, dass vielen Menschen nicht bewusst ist, dass es so etwas wie eine gute Detektivgeschichte gibt; für sie ist es, als ob man von einem guten Teufel spreche. Eine Geschichte über einen Einbruch zu schreiben, ist in ihren Augen eine imaginäre Art, ihn zu begehen. Bei sensiblen Personen ist das ganz natürlich; zugegebenermaßen sind viele Detektivgeschichten genauso voll von spektakulären Verbrechen wie eines der Stücke von Shakespeare.
Der Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Detektivgeschichte ist jedoch ebenso groß, oder eher größer, als der zwischen einem guten Epos und einem schlechten. Die Detektivgeschichte ist nicht nur eine völlig legitime Kunstform, sondern sie hat auch einige klare und reale Vorteile im Dienste des Gemeinwohls.
Der erste wesentliche Wert der Detektivgeschichte besteht darin, dass sie die erste und einzige Form von Populärliteratur ist, in der ein gewisser Sinn für die Poesie des modernen Lebens zum Ausdruck kommt. Die Menschen haben über lange Zeit zwischen mächtigen Bergen und ewigen Wäldern gelebt, bevor sie erkannten, dass diese poetisch sind; daraus lässt sich vernünftigerweise schließen, dass manche unserer Nachkommen Schornsteine in einem ebenso prächtigen Purpurrot wahrnehmen werden wie Berggipfel und dass sie Laternenpfähle als ebenso alt und natürlich empfinden werden wie Bäume. Mit einer solchen Wahrnehmung der Großstadt als etwas Wildes und Ursprüngliches entspricht die Detektivgeschichte eindeutig der „Ilias“. Es kann niemandem entgangen sein, dass in diesen Geschichten der Held oder der Detektiv, der London durchquert, etwas von der Einsamkeit und der Freiheit eines Prinzen in einem Elfenmärchen hat und dass im Verlauf dieser unberechenbaren Route ein gewöhnlicher Autobus die typischen Farben eines Märchenschiffs annimmt. Die Lichter der Stadt beginnen wie die Augen unzähliger Kobolde zu glühen, denn sie sind die Hüter eines Geheimnisses, wie krude es auch sein mag, das der Autor kennt und der Leser nicht. Jede Straßenbiegung ist wie ein Finger, der darauf zeigt; jede fantastische Skyline aus Schornsteinen scheint wild und spöttisch die Bedeutung des Geheimnisses zu signalisieren.
Dieses Erfassen der Poesie Londons ist keine Kleinigkeit. Eine Stadt ist, strenggenommen, sogar noch poetischer als eine ländliche Umgebung, denn die Natur ist ein Chaos von unbewussten Kräften, eine Stadt hingegen ein Chaos von bewussten. Die Krone einer Blüte oder das Muster einer Flechte mögen bedeutsame Symbole sein oder auch nicht. Aber es gibt keinen Stein in der Straße und keinen Ziegel in der Mauer, die nicht tatsächlich bewusste Symbole sind – Botschaften von irgendjemandem, so, als ob sie ein Telegramm oder eine Postkarte wären. Die schmalste Straße hat in jeder kleinsten Biegung etwas von der Seele jenes Mannes, der sie angelegt hat und der vielleicht schon längst in seinem Grab liegt. Jeder Ziegelstein enthält eine menschliche Hieroglyphe, so als wäre er eine Keilschrifttafel aus Babylon; jede Schiefertafel auf dem Dach ist ein so lehrreiches Dokument, als ob sie eine mit Additions- und Subtraktionssummen bedeckte Schultafel wäre. (…)
Aber da es unsere großen Schriftsteller (mit der bewundernswerten Ausnahme von Stevenson) ablehnen, über diese spannende Stimmung zu schreiben, über den Moment, in dem die Augen der großen Stadt, wie die Augen einer Katze, im Dunkeln aufflammen, müssen wir der Unterhaltungsliteratur faire Anerkennung zollen, weil sie, inmitten eines pedantischen und gezierten Geplappers, es ablehnt, die Gegenwart als prosaisch und das Alltägliche als alltäglich zu betrachten. Die populäre Kunst hat sich stets für die zeitgenössischen Sitten und Gebräuche interessiert; sie hat die Gruppen um die Kreuzigung in die Gewänder florentinischer Edelleute oder flämischer Bürger gekleidet. Im vergangenen Jahrhundert war es üblich, dass renommierte Darsteller den Macbeth mit einer gepuderten Perücke und in Rüschenkleidung spielten. (…) Doch dieser zeittypische Instinkt, zurückzuschauen wie Lots Frau, konnte nicht ewig anhalten. Eine raue, populäre Literatur über die romantischen Möglichkeiten der modernen Stadt musste notwendigerweise entstehen. Sie entstand in den populären Detektivgeschichten, so rau und erfrischend wie die Balladen von Robin Hood.
Es gibt aber auch noch etwas Gutes, das Detektivgeschichten leisten. Während der alte Adam ständig dazu neigt, sich gegen eine so universelle und automatische Sache wie die Zivilisation aufzulehnen, Aufbruch und Rebellion zu predigen, machen die Erzählung von polizeilicher Tätigkeit in gewisser Weise die Tatsache bewusst, dass die Zivilisation selbst der sensationellste aller Aufbrüche und die romantischste aller Rebellionen ist. Indem sie von den niemals schlafenden Wächtern handelt, die die Außenposten der Gesellschaft bewachen, kann sie uns daran erinnern, dass wir in einem bewaffneten Lager leben und mit einer chaotischen Welt Krieg führen, und dass die Kriminellen, die Kinder des Chaos, nichts anderes sind als die Verräter in unseren eigenen Reihen. Wenn der Detektiv in einem Kriminalroman allein und irgendwie albern furchtlos inmitten der Messer und Fäuste einer Diebesküche steht, dann soll uns das gewiss daran erinnern, dass der Vertreter sozialer Gerechtigkeit die originelle und poetische Figur darstellt; während die Räuber und Diebe nichts anderes sind starre, zeitlose Konservative mit der uralten Selbstzufriedenheit von Affen und Wölfen. Die Detektivgeschichte enthält somit die ganze Geschichte des Menschen. Sie basiert auf der Tatsache, dass die Moral die dunkelste und gewagteste aller Verschwörungen ist. Sie erinnert uns daran, dass die ganze geräuschlose und unauffällige Polizeiarbeit, von der wir beherrscht und geschützt werden, nichts anderes als das erfolgreiche Wirken fahrender Ritter ist.“
Gilbert Keith Chesterton, A Defence of Detective Stories. In: G.K. Chesterton, The Defendant. London, 1902, S. 118–123. Übersetzung: B. Denscher