Eine aus heutiger Sicht kuriose und durchaus komisch wirkende Diskussion wurde Anfang des 20. Jahrhunderts mit einiger Emphase auf den Kulturseiten der Tageszeitungen geführt. Es ging um „die leidige Theaterhutfrage“, die bald auch zur „Kinohutfrage“ wurde. Sie rief Auseinandersetzungen hervor, „die mit einem lebhaften Wortwechsel beginnen und manchmal mit Prozessen oder doch wenigstens mit einem Gang zum Polizeikommissär enden“.[1]
Auslöser für die offenbar bisweilen recht heftigen Konflikte waren jene großen Hüte, die von Theaterbesucherinnen auch während den Vorstellungen nicht abgenommen wurden und die anderen ZuschauerInnen die freie Sicht auf die Bühne nahmen. Das Thema war nicht neu, schon Jahrzehnte zuvor hatte sich der Schriftsteller Ludwig Börne in satirischer Weise damit auseinandergesetzt und gemeint, dass für das Theater Hüte aus Glas am besten geeignet seien, durch die man hindurchsehen könne und die überdies so geschliffen sein sollten, dass sie den Dahintersitzenden als Operngläser dienen könnten.[2]
Das Aufbehalten des Hutes war jedoch durchaus nicht nur eine modische Allüre. Denn die entsprechende Kopfbedeckung war Teil gesellschaftlicher Normen und sozialer Bewertungen: Wurden die Hüte im Theater als Belästigung betrachtet, so waren sie zur selben Zeit außerhalb des Theaters Zeichen von Anstand, Etikette und Status. Wer „auf sich hielt“, hatte in der Öffentlichkeit einen Hut auf.
Als um 1900 vielfach überdimensionale Kopfbedeckungen für Frauen groß in Mode kamen, entflammte der Streit um die Theaterhüte mit neuer Vehemenz. Ausführlich wurde daher auch über eine Klage berichtet, die in Paris gegen die Schauspielerin Sarah Bernhardt eingebracht worden war. Ein Besucher des von ihr geleiteten „Théâtre Sarah-Bernhardt“ hatte, als er seinen Platz auf der ersten Galerie einnehmen wollte, festgestellt, dass ihn der Hut einer vor ihm sitzenden Theaterbesucherin stark in der Sicht behindern würde. Er wechselte daher auf einen Orchesterplatz, wo das Tragen von Hüten verboten war. Von Sarah Bernhardt wollte er die zehn Francs Aufpreis für den teureren Sitzplatz und hundert Francs Entschädigung einfordern lassen – wurde aber vom Gericht mit der Begründung abgewiesen, dass im Theater deutlich kundgetan sei, auf welchen Plätzen Hüte verboten seien und dass man von der Theaterleitung nicht verlangen könne, das Huttragen auf den anderen Plätzen zu untersagen.[3]
Auch im französischen Montpellier hatte sich ein Gericht mit einem „Monumentalhutfall“ zu beschäftigen: „Ein Polizeikommissär hatte eine Dame, deren Riesenhut im Theater einen Skandal verursacht hatte, zur Anzeige gebracht, aber das Gericht wies die Klage zurück, indem es erklärte, daß der Polizeimann nicht das Recht gehabt habe, die Dame zum Hutabnehmen zu zwingen. In der Urteilsbegründung wurde unter anderem darauf hingewiesen, daß lange Zeit der Zutritt zu den Theatern den Frauen, die ohne Kopfbedeckung erschienen, untersagt war, weil das Fehlen der Kopfbedeckung als ein Zeichen lockerer Sitten betrachtet wurde‘“.[4]
Besondere Aufmerksamkeit fand auch eine Meldung aus Mailand. Denn dort war um 1905 eine „Liga gegen das Tragen von Hüten der Damen im Theater“ gegründet worden. Über deren Satzungen informierte u.a. das Prager „Montagsblatt aus Böhmen“:
„Artikel 1: Die Liga richtet an die Damen einen Appell, freiwillig auf den Hut im Theater verzichten zu wollen.
Artikel 2: Sie fordert den Direktor und den Impresario auf, folgenden Anschlag im Theater anbringen zu lassen: ‚Die intelligenten Damen werden gebeten die Hüte abzunehmen. Die alten Damen dürfen den Hut aufbehalten‘ (Mit diesem alten Witz wird man am Ende den meisten Erfolg erzielen, da ja doch keine Dame alt sein will! Anm. d. Red.)
Artikel 3: Die Liga fordert die Polizei auf, gegen das Tragen von Hüten im Theater ebenso einzuschreiten, wie sie das Mitbringen von Stöcken und Regenschirmen in den Saal verbietet.
Artikel 4: Kein Mitglied der Liga darf eine Dame, die den Hut aufbehält, in das Theater begleiten, und sei es auch die eigene Gattin oder Tochter.
Artikel 5: Die Mitglieder der Liga werden auf alle nur mögliche Weise eine Vorstellung stören und verhindern, solange sich im Saale Damen mit den Hüten auf dem Kopfe befinden.“[5]
Ob durch die Tätigkeit der Liga die „leidige Theaterhutfrage“ in Mailand gelöst werden konnte, ist nicht bekannt. Vermutlich nicht. International blieben die übergroßen Kopfbedeckungen zumindest bis in die 1920er Jahre, in denen dann enge „Topfhüte“ modern wurden, aktuell. Und da mit dem 20. Jahrhundert auch das Kinozeitalter begann, tat sich ein weiterer Schauplatz für entsprechende Hut-Diskussionen auf. Auch ein früher Stummfilm beschäftigte sich mit dem Thema. „Those Awful Hats“ lautete der Titel der 1909 in den USA gedrehten, rund drei Minuten kurzen Komödie: Bei einer Filmvorführung sorgen Frauen mit großen Hüten für zunehmenden Tumult unter dem Publikum, bis dann ein Hut und schließlich auch eine Hutträgerin von einer riesigen Greifzange hinweggehoben werden. Das Schlussbild des Streifens verkündet:
[1] Neues Wiener Journal, 25.3.1905, S. 7.
[2] Börne, Ludwig: Dioptrik. In: Börne, Gesammelte Schriften, Teil 4, Hamburg 1829, S. 73f.
[3] Ein detaillierter Bericht dazu findet sich unter dem Titel „La question des chapeaux“ in der Pariser Tageszeitung Le Temps, 3.7.1905, S. 3.
[4] Neues Wiener Journal, 25.3.1905, S. 7.
[5] Montagsblatt aus Böhmen, 13.11.1905, S. 5
19.12.2020