Als Märchendichter ist Hans Christian Andersen (1805–1875) weltberühmt: Die Werke des dänischen Autors sind in 160 Sprachen übersetzt und werden von „Klein“ wie auch von „Groß“ gelesen, denn bei Texten wie „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, „Des Kaisers neue Kleider“, „Die kleine Meerjungfrau“ oder „Die Schneekönigin“ handelt es sich durchaus nicht um simple Kindergeschichten, sondern um vielschichtige, symbol- und beziehungsreiche literarische Kunstwerke. Weniger bekannt ist, dass Andersen nicht nur ein genialer Erzähler war, sondern auch ein talentierter und sehr origineller bildender Künstler. Neben seinen Zeichnungen und Collagen sind es vor allem die vielen von ihm gefertigten Scherenschnitte, die in ihrer scheinbaren Naivität und oft bizarren Fantastik eine besondere Faszination ausüben. Einer, der die spezielle Qualität dieser filigranen Papierarbeiten erkannte, war der Pop Art-Star Andy Warhol, der 1987 zwei Andersen gewidmete Siebdruckserien gestaltete, die jeweils ein Porträt des Dichters und drei von dessen Scherenschnitten umfassen.
Der Scherenschnitt – die Psaligrafie – war zur Zeit von Hans Christian Andersen eine in ganz Europa weitverbreitete Kunstform. Dies hatte unter anderem damit zu tun, dass das ehemalige Luxusprodukt Papier durch die Entwicklung industrieller Herstellungsverfahren zu einer relativ billigen Massenware geworden war. Es war damit breiten Bevölkerungsschichten möglich geworden, Papier für Dekorations- und Schmuckzwecke zu verwenden. Besonders beliebt waren Porträts in Form von aus schwarzem Papier geschnittenen Silhouetten, die erst durch das Aufkommen der Porträtfotografie allmählich aus der Mode kamen.
Hans Christian Andersen, von dem an die eintausend Scherenschnitte erhalten geblieben sind, beherrschte alle Finessen der Psaligrafie. Anders als viele ScherenschnittkünstlerInnen zeichnete er die Motive und Muster nie vor dem Schneiden auf das Papier, sondern arbeitete einfach darauf los, oft auf mehrfach gefaltetem Papier. Dabei verwendete er nicht nur das übliche schwarze Scherenschnittpapier, sondern bevorzugte vielmehr Blätter in bunten Farben und experimentierte auch mit Materialien wie Zeitungsblättern, alten Briefen, Manuskripten, Konzertprogrammen und sogar mit den Blättern eines Gummibaumes.
Andersen schnitt daraus einzelne Figuren ebenso wie raffinierte Ornamente und Bilder, die von skurrilen Wesen bevölkert waren. Seine lange, spitze Papierschere hatte er fast immer mit dabei, sogar bei Fahrten mit der Postkutsche verkürzte sich der – viel und gerne reisende – Dichter die Zeit mit Scherenschnittarbeiten. Dabei geschah einmal ein kleines Unglück, denn Andersen hatte die Schere schlecht verstaut und nach einem Zwischenaufenthalt in einem Gasthof setzte er sich versehentlich auf sie. „Ich konnte fühlen, wie das Blut herunterrann, und ich musste wieder hinein in den Gasthof, um mein Hinterteil in Essig und Wasser zu baden“, so beschrieb Andersen die „brillante Szene“, bei der zwei Bekannte als Sanitäter mitwirkten, selbstironisch in einem Brief.
Hans Christian Andersens hohe Kunstfertigkeit beim Gestalten von Scherenschnitten ist auch das Thema eines Textes mit dem Titel „Des Märchendichters Schere“, den der deutsche Schriftsteller Christian Morgenstern 1905 anlässlich der 100. Wiederkehr von Hans Christian Andersens Geburtstag verfasste. Ganz im Stil eines Andersen-Märchens wird da erzählt, dass die Schere des Dichters „eine Art Seele“ hatte, die sie zu einem „außerordentlichen Wesen machte“, das sich gebärdete, „wie eine kleine Prinzessin, die sich nichts zu versagen braucht, wonach ihr das Herze steht.“ Und daher war es auch nicht der Dichter, sondern die Schere, die bestimmte, was ausgeschnitten wurde, und „die guten dicken Finger mussten immer mit, immer mit und konnten froh sein, wenn sie nicht ganz rot geschunden wurden. Ja, das war eine ganz wunderliche Schere. Während die anderen immer ganz genau wussten, was sie wollten, und nie mehr wollten, als sie konnten, erlebte man von ihr die unerwartetsten Dinge, sei es, dass sie sich einfach in ihren Stoff hineinstürzte und dann dem Zufall überließ, sei es, dass sie sich von vorneherein sagte: Jetzt soll es einmal etwas ganz Absonderliches werden, etwas über die Maßen Spaßiges, oder Verwirrendes, oder Geheimnisvolles.“ Als aber der Märchendichter starb, wurde sie „wieder eine gewöhnliche Schere wie alle andern. Sie schnitt auch ferner Putten und Palmen aus, aber es war kein rechter Sinn mehr dabei, denn sie hatte mit ihrem Meister zugleich ihre besondere, übermütige Seele eingebüßt.“
Die „Hans Christian Andersen Collection“ in Andersens Heimatstadt Odense verfügt über eine umfangreiche Sammlung zum Werk des Dichters. Die „Collection“, die auch Scherenschnitte enthält, die über die Website der Odense City Museums einsehbar
20.10.2018