Jeden Abend schaltet das ältere Ehepaar den Bildschirm ein, um per Videoanruf ein wenig mit den Kindern zu chatten. Das scheint nichts Ungewöhnliches zu sein. Dergleichen geschieht täglich weltweit unzählige Male. Noch dazu, wenn die Eltern, wie im konkreten Fall, in London leben und sich die anderen Familienmitglieder gerade in Sri Lanka befinden. Bemerkenswert jedoch ist diese Szene deshalb, weil sie in einer Darstellung aus dem Jahr 1878 wiedergegeben ist. Das Telefon war gerade erst – 1876 – patentiert worden, und von Long-distance calls war noch längst nicht die Rede. Und da also ein veritabler Videochat?
Zu finden ist diese Zeichnung in „Punch’s Almanack for 1879“, einem vom Londoner Satiremagazin „Punch“ im Dezember 1878 herausgegebenen Sonderheft. Geschaffen hat sie George du Maurier (1834–1896). Der aus Paris stammende Grafiker und Schriftsteller (der mit dem Roman „Trilby“ einen Welterfolg schrieb) war fast drei Jahrzehnte lang für den „Punch“ tätig, für den er eine Vielzahl von Karikaturen zeichnete.
Seiner Utopie eines Videogesprächs gab du Maurier den Titel „Edison’s Telephonoscope“. Den Begriff „Telephonoscope“ für jenes Gerät, über das die Bild- und Tonübertragung erfolgt, hatte du Maurier erfunden, und wenn er davor den Namen von Thomas Alva Edison setzte, so lag dies daran, dass der Amerikaner der weltweit berühmteste Erfinder in jener an Erfindungen so reichen Zeit war. Bei einer satirischen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des rasanten technischen Fortschritts passte sein Name am besten. Mit seinem Telephonoscope zeichnete George du Maurier (der übrigens der Großvater der Schriftstellerin Daphne du Maurier war) zu einer Zeit, als Videokommunikation noch als etwas vollkommen Irreales erschien, eine Vorrichtung, die den heutigen Geräten erstaunlich ähnlich war.
Die zukünftigen Möglichkeiten einer elektrischen Bildschirmtechnik waren ab dem späten 19. Jahrhundert Gegenstand zahlreicher Forschungen und fanden auch großes öffentliches Interesse. Noch wusste niemand zu sagen, wie diese Technik beschaffen sein werde – und genau das inspirierte zu Karikaturen, Satiren und Texten der frühen Science-Fiction-Literatur. Besonders intensiv setzte sich der französische Schriftsteller und Grafiker Albert Robida (1848–1926) mit dem Thema auseinander. Robida kannte du Mauriers Cartoon, übernahm davon den Begriff des Telephonoscopes und machte die Videokommunikation zu einem der zentralen Themen in seinen beiden Romanen „Le Vingtième Siècle“ („Das zwanzigste Jahrhundert“), erschienen 1882, und „Le Vingtième Siècle. La Vie Électrique“ („Das zwanzigste Jahrhundert. Das elektrische Leben“), erschienen 1890.
Beide Werke stattete Robida mit zahlreichen eigenen Illustrationen aus, und in beiden führt die Handlung nach Paris: „Le Vingtième Siècle“ spielt im Jahr 1952, im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die studiert hat und als Journalistin und Anwältin tätig ist (auch die Frauenemanzipation war ein Thema, dessen sich Robida – früher als viele seiner Zeitgenossen – in populärer Form annahm). „Le Vingtième Siècle. La Vie Électrique“ ist eine Familiengeschichte aus dem Jahr 1956.
Das Telephonoscope ist in beiden Romanen ein zentraler Bestandteil des täglichen Lebens. Es dient der Nachrichtenübermittlung ebenso wie der Videokommunikation und dem (heute so bezeichneten und sehr aktuellen) Teleteaching. So etwa absolviert im Roman „Le Vingtième Siècle. La Vie Électrique“ die junge Ingenieurin Estelle über das Telephonoscope Kurse an der Universität Zürich und am Pariser Institut für Elektrizität.
Das Telephonoscope ermöglicht in Albert Robidas utopischem 20. Jahrhundert aber auch die Teilnahme an Kulturveranstaltungen. Ganz nach Belieben kann man sich in die gerade stattfindenden Theater-, Ballett- oder Opernaufführungen „nicht nur in Paris, sondern auch in Brüssel, London, München oder Wien“ einklinken und sich entweder eine ganze Vorstellung oder einen Akt da, den anderen dort ansehen.
Albert Robidas utopische Romane werden oft mit jenen des um zwanzig Jahre älteren Jules Verne verglichen, wobei, so vermerkt der Literaturwissenschaftler Heinrich Raatschen, „zu Recht das populärwissenschaftliche Gewicht Vernes im Gegensatz zum Humoristischen und Unterhaltsamen von Robidas Werk betont wird. Didaktische Absichten sind Robidas Sciencefiction-Werken fremd. Für ihn ist Technik ein Thema, mit welchem man das Publikum amüsieren oder bei Gelegenheit auch erschrecken kann.“**
Albert Robida war zu seiner Zeit als Autor zahlreicher Werke (darunter etliche weitere utopische Romane), Verfasser von Jugend- und Sachbüchern, als Karikaturist und Buchillustrator sehr erfolgreich, seine Romane über das 20. Jahrhundert wurden in etliche Sprachen übersetzt. Vor allem die von ihm sosehr favorisierte Idee einer zukünftigen Videokommunikation kam gut an und wurde vielfach aufgenommen und weiter popularisiert. Beispielsweise gehörte ein Modell eines „Telephonskops“ im Fasching 1887 zu den Kuriositäten eines Wiener Künstlerfestes, das unter dem Motto „Eine Weltausstellung in hundert Jahren“ stand (s. Neue Illustrirte Zeitung, 27.2.1887)
Ähnliche Geräte waren auch als Motive auf jenen beliebten Reklamekarten zu finden, die verschiedenen Produkten, wie Zigaretten, Süßigkeiten oder Spielwaren, beigelegt wurden. So etwa auf einer der Karten aus der um die Jahrhundertwende entstandenen Serie „En LʼAn 2000“ („Im Jahr 2000“), die eine Vielzahl von utopischen Motiven – von Fluggeräten bis zu Unterwassertransportmitteln – enthielt (siehe oben, erste Abbildung). Auch als dann einige Jahre später, 1912, die Pariser Schokoladenfirma Lombart Reklamekarten mit Motiven unter dem Motto „En LʼAn 2012“ („Im Jahr 2012“) herausbrachte, gehörte die Videokommunikation mit ins Repertoire. Denn so können die Eltern ihrem Sohn mitteilen, dass sie ihm seine Schokolade der Firma Lombart per Luftfracht nach Indien schicken werden.
** Heinrich Raatschen: Die technische und kulturelle Erfindung des Fernsehens in den Jahren 1877–1882. Inaugural-Dissertation, Philosophische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 2005. S. 176.
9.5.2020