Einen schöneren Titel für das Folgende, in dem es um den Wald und die Bäume gehen wird, gibt es wahrscheinlich nicht. Er stammt von einem Roman der amerikanischen Science-Fiction Autorin Ursula K. Le Guin aus dem Jahr 1972. Es ist eine eigenartige und vielfältige Mischung von Büchern, die sich hier zum Thema „Der Wald und die Bäume“ ergeben hat, es scheint nämlich, als ob dieses Thema wieder einmal ganz stark in den Blickpunkt der Menschen gerückt werde. Es finden sich da Biografien, mehr oder weniger sachliche Bücher, mehr oder weniger fantastische Romane und sogar ein Kinderbuch. „Wer in einen Wald geht, betritt eine andere Welt, in der er sich verwandelt!“ schreibt Roger Deakin ganz zu Beginn seines Buchs „Wilde Wälder“. Möge das Verwandeln beginnen:
Einer der ersten, die über dieses Verwandeln, das „zum wirklichen Sein vorzudringen“ geschrieben hat, der es auch gelebt hat, war Henry David Thoreau. Zwei Jahre lebte er in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Hütte im Wald und verfasste darüber ein berühmtes Buch: „Walden oder Leben in den Wäldern“. Aber, wie eine seiner Biografinnen, Susan Cheever, schrieb: „Walden ist ein Meisterwerk, das allerdings häufiger zitiert als gelesen wird“. Nachdem Thoreau aus den Wäldern zurückgekehrt war, vermerkte er völlig leidenschaftslos in seinem Tagebuch: „Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, überhaupt hinzugehen. Hätte ich länger in den Wäldern gelebt, wäre ich vielleicht für immer dort geblieben. Man muss gut nachdenken, bevor man den Himmel zu solchen Bedingungen akzeptiert.“ Den Himmel akzeptieren – das scheint Menschen schon immer an ihre Grenzen gebracht zu haben.
H.D. Thoreau scharte Freunde um sich und er war auch ein Vorbild, zum Beispiel für John Burroughs, einen „literarischen Naturforscher“: „Man muss den Vogel in seinem Herzen tragen, bevor man ihn im Gebüsch vorfinden kann“, schreibt er in „Von der Kunst, Dinge zu sehen.“ Und es ist bezeichnend, dass seine Essays jetzt, hundert Jahre nachdem sie geschrieben wurden, sowohl tiefe Beruhigung als auch intellektuelle Herausforderung bewirken. Dieser Burroughs ging durch die Natur und sah sein Beobachten als Kunst an, der man sich teilnahmsvoll-emotionell oder wissenschaftlich-erkennend annähern könne. Wobei ihm schon bewusst war, dass „die Literatur, die versucht, dem Beobachten mit sprachlichen Mitteln näher zu kommen, dieses nicht einzuholen vermag.“
Von den Sonderlingen des neunzehnten nun ins zwanzigste Jahrhundert: Annie Proulx ist 1935 geboren und hat an einschlägigen literarischen Preisen so gut wie alles bekommen. Worin liegt die Qualität ihres Schreibens? Ihre Landschaftsschilderungen sind episch ausladend und intensiv zugleich, und die Menschen, die sie dort – in oft recht lebensfeindlicher Umwelt – ansiedelt, üben eine ganz eigenartige Faszination aus, obwohl sie oft auch untüchtige Verlierer, ausgebeutete Underdogs und nicht immer wirklich sympathisch sind. Sie alle werden von der Autorin mit eiskalt trockenem Humor durch die Welt getrieben. Viele Jahre arbeitete sie an „Aus hartem Holz“, im amerikanischen Original „Barkskins“. Die Geschichte beginnt 1693 irgendwo im Gebiet des heutigen Kanadas, wo französische Siedler versuchen, den Wald urbar zu machen, und endet 2013 mit den nicht immer hoffnungsvollen Bemühungen um den Wald. Um ihn geht es also primär und das, was die Menschen, die in ihm, die von ihm – und die zuletzt für ihn – leben, daraus machen. Die Autorin weiß ganz genau, wie sie einen in ihre Geschichte hineinzieht, sie bevölkert den unzugänglichen Wald mit bis ins kleinste Detail hinein beschriebenen Menschen, konfrontiert mit deren Tun und Denken so, dass man sich in die Zeiten des jugendlichen Lederstrumpf-Lesens zurückerinnert fühlt. Hat sie einen einmal so gefangen, ändert sie im Folgenden ihre Erzähltechnik, denn sie hat ja noch einige Jahrhunderte und damit viele Generationen vor sich: In ein paar knappen Sätzen umreißt sie die Menschen, stellt dennoch Frauen und Männer aus Fleisch und Blut hin und schafft es, dass man auch mit einigen ihrer höchst unsympathischen Helden mitgeht, mitfiebert, mitleidet. Erzählerische Ausflüge wagt Proulx weg vom nordamerikanischen Urwald hin zum Luxus des alten Europas im beginnenden 18. Jahrhundert, zu den zauberhaften Gärten Chinas oder nach Brasilien zur dunklen Vielfalt der Tropen.
Nach dem ausufernden Roman der Annie Proulx hin zu „Wilde Wälder“ von Roger Deakin, der dort gleich zu Beginn schreibt: „In meinen Adern fließt Baumsaft.“ Programm für dieses Buch war, sich auf die Suche nach dem verloren geglaubten Zauber der Bäume zu begeben, Holz ist für Deakin das fünfte Element. Er geht durch die Wälder seiner englischen Heimat, aber auch in den Pyrenäen, in Kirgisistan oder in den zentralaustralischen Wüsten. „Wurzeln, Splintholz, Treibholz und Kernholz“ betitelt er die einzelnen Abschnitte, in denen er sowohl die Wälder beschreibt als auch das, was er dort findet und sowieso alles, was man in all diesen Gegenden aus Holz herstellt. Er möchte zeigen, wie bedeutsam und wichtig Bäume sind: „Damit wir nicht mehr nur allgemein von ‚Bäumen‘ sprechen, sondern jeden einzelnen Baum und jede einzelne Art bedenken.“ Dazwischen ist dann vom glimmenden Holzfeuer im Kamin die Rede und vom zarten Knistern. „Wilde Wälder“ ist ein sehr schön gemachtes Buch, das es einem auch optisch und haptisch leicht macht, sich in die Waldwelt seines Autors zu begeben.
„Im Wald da sind die Räuber“ sangen wir vor vielen Jahren. Und dorthin, in den Wald, der von Räubern besiedelt ist, oder besser von einem Räuber, der so richtig böse ist und sich daher auch mit eu schreibt, also Reuber, führt Finn-Ole Heinrich in seinem Buch „Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes“. „ ‚Reuber, Reuber‘, rummelte der Reuber. ‚Ich bin Reuber. Hatterschon als Kind jeen Tag ein Mensch gefress. Unheute isser größer noch, stärker noch, unhat mehr Hungernoch‘.“ Dieser Reuber hat also auch eine entsprechend böse Sprache. Die Reise tritt ein Vater an, der sein Kind namens „Krümelchen“ um Entschuldigung bittet, dass er bei dessen Geburt nicht anwesend sein konnte, weil er im Wald nach dem Reuber suchen musste, Unglaubliches erleben wollte. Es gibt solche Geschichten für Zehnjährige, in die man sich auch als Erwachsener hineinfallen lassen kann, vor allem, wenn sie so originell – natürlich mit viel Grün – illustriert sind, wie das die Zeichnerin Rán Flygenring zuwege bringt. Weil man vielleicht seinen Kindern auch gerne eine Abenteuergeschichte erzählt hätte, eine selbst erlebte natürlich. „Du musst den Wald verstehen, wenn du den Reuber verstehen willst. Mindestens einmal musst du im Wald geschlafen haben, um auch nur eine Ahnung zu haben, wovon ich hier rede.“ Vom Reuber lernt der Vater zuerst einmal das Atmen, dann überhaupt alles, was man im Wald braucht – und manchmal hebt er in seinem Erzählen auch ab. Letztlich kommt er aber zu seiner Frau Amanda und dem Krümelchen zurück.
Eines der literarischen Ereignisse der jüngsten Zeit war sicherlich der Roman „Die Wurzeln des Lebens“ von Richard Powers. Der 1957 geborene US-Amerikaner ist durch seine ganz eigenartige literarische Herangehensweise an naturwissenschaftliche und philosophische Themen berühmt geworden. „The Overstory“ heißt das Buch im amerikanischen Original. Overstory ist die Baumkrone, der dichte Baldachin, den die äußerste Schicht von Blättern bildet. Krone ist somit auch einer der Abschnitte des Buches betitelt, die anderen: Wurzel, Stamm und Samen. Es geht zuerst einmal um neun Menschen und ihre Lieblingsbäume, deren Geschichte Powers erzählt. Mit überbordend viel Gefühl erzählt. Da ist von den Gerüchen des Holzes die Rede und von Baumhäusern, auch davon, dass ein Mann einmal im Monat seinen Baum fotografiert und sein Sohn das weiterführt und dessen Sohn und, und… Manchmal hebt er ein wenig esoterisch ab und meint, dass Pflanzen einen Willen hätten, Bäume soziale Wesen seien und miteinander kommunizierten, „selbst die jungen Stämme sind wie Engel“. Es kann sowohl sein, dass man vom Gefühl überwältigt ist, aber auch, dass es einem – wie einigen Kritikern im deutschsprachigen Feuilleton – zu viel wird. Dennoch will man weiterlesen. Bis zum Ende, das in eine zaghaft hoffnungsvolle Zukunft führt.
Die in Deutschland, in den bayrischen Wäldern, lebende Japanerin Miki Sakamoto verspricht in ihrem Buch „Eintauchen in den Wald“ mit Waldgängen gelassen und glücklich zu werden. Sie meint, dass ihr Gehen im Wald nichts mit Fitnesstraining und auch nichts mit Meditation zu tun habe, beides seien nämlich egozentrische und isolierende Tätigkeiten. Sie will sich öffnen und hat dafür auch ein japanisches Wort: „Shinrinyoku“, was so viel heißt, wie „Waldbaden“, Sich-Hineinbegeben in den Wald. Sie gibt in ihrem sehr persönlichen Buch Eindrücke, Erlebnisse und Beobachtungen wieder, die sie fasziniert haben. Sie will dieses Leben, das es außerhalb und unabhängig von ihr gibt, bewusst wahrnehmen. Auch wenn das zum Beispiel die ganz eigenartig faszinierend riechende Stinkmorchel mit dem schamlosen Namen „Phallus impudicus“ ist. Ein echtes Bedürfnis, ja sogar eine Art Sucht, kann dieses „Waldbaden“ werden.
Rudi Palla ist ein Allrounder, er schreibt über ausgestorbene Handwerke genauso wie über Expeditionen in vergangenen Zeiten. Und über Bäume: „Unter Bäumen“ heißt eines seiner Bücher und trägt den Untertitel „Reisen zu den größten Lebewesen“. Einundzwanzig Bäume hat er ausgewählt, zwanzig davon existieren real – von der Platane bis zum Ölbaum –, einer ist von Gabriel Garcia Marquez und heißt „Macondo“. Es sind also Bäume, die Palla entweder persönlich oder aus der Literatur kennt. Wichtig war ihm, das Persönliche und das, was er bei seinen Recherchen erfahren hat, weiterzugeben. Vom Brotbaum kommt er zur Meuterei auf der Bounty, vom Gingko zu Goethe und Marianne von Willemer, vom Götterbaum zur Bepflanzung der Wiener Ringstraße. Was Palla fasziniert, sind die großen und die mächtigen Gewächse, die Riesen und die Uralten, deren Werden er mit der Menschheitsgeschichte in Zusammenhang stellt. Vor und auch in den einzelnen Kapiteln kommen viele, viele Dichter zu Wort und einer, der sozusagen den moralischen Hintergrund für das Buch liefert, ist Hans Magnus Enzensberger: „Heute ist es fast ein Verbrechen, nicht über Bäume zu sprechen. Wir wissen doch, dass die Biosphäre nicht im besten Zustand ist, insofern ist die Verteidigung der Bäume – der Natur – auch eine Pflicht, wenn man überhaupt die Dichter zu irgend etwas verpflichten will.“
Das wäre dann ja auch ein passendes Schlusswort zu dieser Wald- und Baumsammlung.
Henry David Thoreaus „Walden“ ist in zahlreichen Ausgaben erhältlich, so etwa aus den Verlagen Reclam und Diogenes.
John Burroughs: Von der Kunst, Dinge zu sehen. Übersetzt von Klaus Bonn. Limbus Verlag, Innsbruck 2019.
Annie Proulx: Aus hartem Holz. Übersetzt von Melanie Walz u. Andrea Stumpf. Luchterhand Verlag, München 2017 und btb Taschenbuch, München 2018.
Roger Deakin: Wilde Wälder. Übersetzt von Frank Sievers u. Andreas Jandl. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018.
Finn-Ole Heinrich: Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes. Mairisch Verlag, Hamburg 2018.
Richard Powers: Die Wurzeln des Lebens. Übersetzt von Gabriele Kempf-Allié u. Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2018.
Miki Sakamoto: Eintauchen in den Wald. Verlag hanserblau, Berlin 2019.
Rudi Palla: Unter Bäumen. AT Verlag, Aarau 2018.
11.5.2019. Fotos: K. Holzer