DAS PHÄNOMEN RAFFAEL

Raffael, Detail aus dem Gemälde „Sixtinische Madonna“. Alle Abbildungen: Wikipedia
Raffael, Detail aus dem Gemälde „Sixtinische Madonna“. Alle Abbildungen: Wikipedia

Das Datum seiner Geburt – irgendwann im Frühjahr 1483 in Urbino – steht nicht so genau fest. Doch als der Maler und Architekt Raffaello Santi am 6. April 1520 in Rom starb, wurde dies europaweit betrauert. Aus der Vielzahl von einschlägigen Werken, die es zu seinem Werk gibt, sei eines ausgewählt – nicht nur, weil es in seinem Titel ein Rufzeichen trägt: „Raffael!“, sondern vor allem, weil sein Autor, Arnold Nesselrath, einen ganz besonderen Zugang zum Werk des Künstlers hat. Der deutsche Kunsthistoriker leitete nämlich über drei Jahrzehnte hinweg die Restaurierung der sogenannten „Stanzen des Raffael“ im Vatikan, also jener Gemächer im Apostolischen Palast, die von Raffael und seiner Werkstatt mit monumentalen Wandgemälden ausgeschmückt wurden.

Raffael, La scuola di Atene. 1510/11 geschaffenes Fresko für die Stanza della Segnatura des Vatikans. Der Titel des Werks, „Die Schule von Athen“, verweist auf die philosophische Tradition im antiken Griechenland. Unter den dargestellten Personen befinden sich unter anderem Platon und Aristoteles (in der Bildmitte), Sokrates, Diogenes, Pythagoras, Euklid und Epikur.
Raffael, La scuola di Atene. 1510/11 geschaffenes Fresko für die Stanza della Segnatura des Vatikans. Der Titel des Werks, „Die Schule von Athen“, verweist auf die philosophische Tradition im antiken Griechenland. Unter den dargestellten Personen befinden sich unter anderem Platon und Aristoteles (in der Bildmitte), Sokrates, Diogenes, Pythagoras, Euklid und Epikur.

Im Prolog zu seinem Buch weist Arnold Nesselrath darauf hin, dass wir über Raffael sehr wenig wüssten, auf drei Informationsstränge angewiesen seien. Der erste ist die Künstlervita des Giorgio Vasari, verfasst 1550, also dreißig Jahre nach Raffaels Tod. Der zweite ist das umfangreiche Werk des englischen Kunsthistorikers John Shearman aus dem Jahr 2003 „Raphael in Early Modern Sources 1483–1602“. (Von Shearman stammt übrigens die durchaus zutreffende Feststellung: „Raphael is good for your soul“). Der dritte Informationsstrang, auf den Nesselrath sich, wie er betont, am meisten verlasse, seien Raffaels Werke selbst: „Wenn man diese kleinen authentischen Mosaiksteinchen untereinander verbindet, entstehen Flecken, die zu einem Mosaik gehören, das die Biografie des Künstlers und des Menschen umschreibt“.

Raffael: Selbstporträt, zwischen 1504 und 1506.
Raffael: Selbstporträt, entstanden zwischen 1504 und 1506

„Raffael in der Welt und über die Zeiten hinweg“, heißt das erste Kapitel, in dem von Dürer und Rembrandt, von Baselitz, Hirst und noch vielen anderen Künstlern die Rede ist, „die dem Bann, den Raffaels Pinsel ausübte“ erlegen sind. Raffaels Zeitgenosse Michelangelo allerdings äußerte sich nur ein einziges Mal über ihn, und da negativ: „Alles, was Raffael in der Kunst war, hatte er von mir“, schrieb Michelangelo 22 Jahre nach Raffaels Tod in einem Brief an einen Freund. Darüber, warum „eine derartige Empörung aus Buonarrotis Feder geflossen ist, kann man nur spekulieren“, meint Nesselrath: „Vielleicht fürchtete Michelangelo die mächtige Wirkung der Werke des verstorbenen Raffael und das Gewicht seines Erbes.“

Das Kapitel „Raffael in der Werkstatt“ leitet Arnold Nesselrath mit einem Vergleich zwischen heutigen Couturiers und den Künstlern der Renaissance ein. Hier wie da steht ein Name für das Gesamtwerk, das Team findet kaum Erwähnung, alles „ist nur auf einen Einzigen bezogen: den Kreativdirektor. (…) Eine ähnliche Haltung wird der Schöpfung eines Renaissance-Künstlers gegenüber eingenommen, auch wenn ein berechtigtes Interesse daran besteht, herauszufinden, wie dieser seine Werkstatt bei der Realisierung des von ihm signierten Werkes miteinbezogen hat.“ In diesem Zusammenhang lobt Nesselrath an Raffael dessen virtuose Erfindungskraft genauso wie die Fähigkeit, mit den Mitarbeitern der Werkstatt zu interagieren.

Raffael, Madonna della seggiola, 1513
Raffael, Madonna della seggiola, 1513

„Raffael inmitten seiner Kinder“ heißt der Abschnitt, in dem von Raffaels Freude an der Darstellung von Kindern die Rede ist: „Raffael hat oft Kinder beobachtet, er war fasziniert von ihnen. Von ihrem Ausdruck und ihren Bewegungen angezogen, stellte er mit großer Einfühlung und Zuneigung ihr Wesen in seinen Skizzen dar, als wären sie seine Kinder.“ Genauso wie bei Porträts von Erwachsenen ging es Raffael auch bei der Darstellung von Kindern darum, Persönlichkeit und Individualität herauszuarbeiten. Auch im streng sakralen Kontext lässt er etwa den Engeln ihre ganz besondere Eigenart. Augenscheinlich wird das – und Raffaels von einem gewissen Witz geprägter Zugang – bei den beiden Putti auf seinem wohl berühmtesten Werk, der Sixtinischen Madonna.

Raffael, Sixtinische Madonna, 1513/14
Raffael, Sixtinische Madonna, 1513/14

Ausführlich beschäftigt sich Arnold Nesselrath in seinem Buch mit der Rezeption Raffaels, beschreibt die ungeheure Wirkung, die von seinem Stil ausging und wie die „Marke Raffael“ zur Modeerscheinung wurde. Nesselrath ist in seinen Texten eher fordernd, vermittelt dabei aber interessante Einsichten und pointierte Gedanken: „Wissenschaftliche Analysen und technische Untersuchungen können eine Fälschung identifizieren, aber sie werden nie ein Original erkennen können“, denn das Kunstwerk sei, so Nesselrath, der Moment zwischen seiner Schöpfung und seiner Wahrnehmung, seiner Entstehung und seiner Wirkung.

Raffael, Donna Velata, entstanden zwischen 1512 und 1518
Raffael, Donna Velata, entstanden zwischen 1512 und 1518

Von der Reflexion zur Arbeitsrealität führt Nesselrath im Kapitel „Raffael aus der Nähe“, wenn er zum Beispiel erzählt, dass man in den 1980er Jahren bei der Restaurierung eines Freskos im Vatikan in einem Hohlraum einige gekochte Bohnen gefunden habe, die sich dort ein halbes Jahrtausend erhalten hätten: „Vielleicht waren während der Mittagspause der Maurer einige der Hülsenfrüchte in den Eimer mit dem Putz gefallen, und dieselben Maurer hatten sie zusammen mit dem Putz auf die Mauer aufgetragen, auf die Raffael anschließend sein Fresko gemalt hat.“

Arnold Nesselrath schließt sein reich illustriertes Buch mit der Erkenntnis, dass jede und jeder seinem eigenen Raffael begegne, „der aber dennoch immer derselbe ist.“ Dass der Maler eine ganz besondere Persönlichkeit war, berichtete schon Giorgio Vasari, sein erster Biograf. In Raffaels Gesellschaft, so schrieb er, gab es keine üble Laune und keinerlei schlechte Gedanken – und diese positive Haltung ist auch in den Bildern spürbar.

Buchcover

Arnold Nesselrath: Raffael! Belser Verlag, Stuttgart 2020.
Giorgio Vasari: Das Leben des Raffael von Urbino, Reclam Verlag, Ditzingen 2020.

10.4.2020

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