DAS GEHEIMNIS DER CHOLMONDELEY LADIES

Es ist ein seltsam faszinierendes und auch ein wenig irritierendes Gemälde, das da in einem der Säle der Londoner „Tate Britain“ hängt: Abgebildet sind zwei Frauen, die, luxuriös bekleidet, nebeneinander in einem Bett sitzen, jede von ihnen hält ein in ein prunkvolles, rotes Tuch gehülltes Kleinkind in den Armen. Die Szene wirkt starr, ohne jegliche Emotion. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Porträts identisch zu sein, weshalb „The Cholmondeley Ladies“ (so der Bildtitel) häufig als das Bildnis eines Zwillingspaares interpretiert wird. Dies scheint auch eine kleine Inschrift in der linken unteren Bildecke zu bestätigen: „Two Ladies of the Cholmondeley Family, Who were born the same day, Married the same day, And brought to Bed the same day“.

Allerdings lassen sich bei genauerer Betrachtung zahlreiche Unterschiede in der Darstellung der beiden Frauen entdecken. So etwa sind Schmuck, Kleiderstoffe und Spitzen verschiedenartig. Vor allem aber haben die beiden Ladies, die am selben Tag geboren wurden, am selben Tag heirateten und am selben Tag ein Kind zur Welt brachten (worauf die Formulierung „brought to bed“ verweist), unterschiedliche Augenfarben – die eine graublau, die andere braun (und auch die beiden Kinder unterscheiden sich darin). Das und die Tatsache, dass sich in der Genealogie der aus dem Nordwesten Englands stammenden Adelsfamilie Cholmondeley keinerlei Hinweis auf die Schwestern findet, lassen die Fachwelt an der Zwillingstheorie zweifeln. Wer waren also die beiden Frauen?

Es gibt noch einige weitere ungeklärte Fragen rund um dieses rätselhafte Bild: Wer hat es gemalt? Nirgendwo findet sich dazu ein Hinweis, sicher scheint nur, dass das Gemälde um 1600 entstanden ist. Warum aber diese merkwürdige Ähnlichkeit, diese starre Pose, die zwar hin und wieder auf Grabskulpturen aus jener Zeit zu finden ist, nicht aber auf Gemälden? Und: wer war jener Anonymus, der das Bild 1955 der „Tate Britain“ überließ?

Website der „Tate Britain“

3.1.2020. Fotos: B. Denscher

Die Themen der Flaneurin:
Nach oben scrollen