Es ist ja noch immer so, dass man beim Lesen an eine Biografie relativ konservativ herangeht, indem man erwartet, über eine Person chronologisch von der Geburt bis zum Tod, von der Herkunft bis zu den Nachwirkungen unterrichtet zu werden. Dem ist heutzutage jedoch nur mehr in seltenen Fällen so. Das Leben wird als Stoff gesehen, der recht subjektiv weitererzählt und gedeutet wird. Man tut also gut daran, sich vor der Lektüre in Lexika oder bei Wikipedia über die Facts zu informieren, um so – ausgestattet mit einem gewissen Basiswissen – den dichterischen Kapriolen folgen zu können.
Ja und dann gibt es eben auch den – durchaus positiven – Trend, die Lebensläufe jener Frauen bekannt zu machen, deren Licht von ihren männlichen Partnern bis jetzt recht „erfolgreich“ unter den Scheffel gestellt wurden. Da gibt es zum Beispiel das Buch von Jana Revedin über Ilse Frank-Gropius, die ihrem Mann, dem Architekten Walter Gropius, zuliebe sogar ihren Vornamen in Ise änderte. Ein weiteres Beispiel ist Helena Janeczeks biografischer Roman „Das Mädchen mit der Leica“ über das Leben von Gerda Taro, die an der Seite von Robert Capa im spanischen Bürgerkrieg fotografierte. Und nun also die Designerin und Fotografin Charlotte Perriand und ihr – laut Untertitel des Buches – „Leben als moderne und unabhängige Frau“, aufgeschrieben von der französischen Publizistin und Historikerin Laure Adler. Um es gleich vorwegzunehmen: in diesem Fall war es der Architekt Le Corbusier, der viel von dem, was Perriand entworfen hatte, unter seinem Namen veröffentlichte.
Kurz also die Facts: Charlotte Perriand wurde 1903 in Paris geboren, studierte Innenarchitektur, spezialisierte sich auf Möbeldesign und machte sich früh mit Entwürfen aus Aluminium, Chrom und Glas einen Namen. Von 1927 bis 1937 war sie Mitarbeiterin im Atelier von Le Corbusier, für den sie auch später noch Entwürfe lieferte. 1940 reiste sie auf Einladung des japanischen Ministeriums für Handel und Industrie als Beraterin für Industriedesign nach Tokio und war ab 1942 in Vietnam tätig. 1946 kehrte sie nach Paris zurück, arbeitete als Architektin und Möbeldesignerin und erhielt in den folgenden Jahrzehnten neben privaten Aufträgen vor allem auch zahlreiche von staatlichen Institutionen und Unternehmen. Charlotte Perriand starb 1999 in Paris.
Laure Adler, die bereits zahlreiche biografische Werke veröffentlicht hat (so etwa über Hannah Arend, Marguerite Duras, Françoise Giroud und Simone Weil) und stark feministisch engagiert ist, verfasste für das Buch über Charlotte Perriand einzelne Essays, in denen sie Leben und Werk in jeweils verschiedenen Zusammenhängen sieht. Da ist natürlich das Verhältnis zu Le Corbusier, einem der einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts, ein Thema. Er forderte sie, er förderte sie und er nutzte sie aus. Ein anderer Schwerpunkt ist Perriands scheinbar unerschöpfliche Schaffenskraft, die sich nicht nur auf Architektur, Innenarchitektur und Design beschränkte, hatte sie doch Visionen, die sowohl das Gestalterische umfassten als auch das Soziale und Politische. Von ihren Asien-Aufenthalten brachte sie fernöstliches Formempfinden nach Frankreich, ihre Liebe zu den Bergen setzte sie in grandiosen Bauten für den alpinen Tourismus um, wie zum Beispiel die Skistation „Les Arcs“. Perriand entwarf Bars, in denen sie „in einem kleinen Raum ein wahrhaftes Nest schaffen konnte“, genauso wie Unterkünfte für Clochards, auf ihrem Zeichentisch entstanden die Entwürfe der berühmten „Chaise longue basculante“, von Einrichtungen für Air France-Büros und von Sitzen für NASA-Astronauten.
Zu kritisieren ist der ununterbrochen hymnische Ton, zu dem sich Laure Adler bei ihrem Buch über Charlotte Perriand verführen ließ. Weniger überschwängliche Hagiografie und mehr distanzierte Lebensbeschreibung wären dem Thema zuträglicher gewesen, eine chronologisch angelegte Biografie erwartet man sich ohnehin nicht mehr (siehe oben!). Besonders interessant ist aber auf jeden Fall der Essay „Die freie Frau“, in dem es zuerst ganz allgemein um die Rolle der Frau im vergangenen 20. Jahrhundert in Frankreich geht und dann ganz speziell um die in intellektuellen und künstlerischen Bereichen tätigen Französinnen.
Den Leistungen Charlotte Perriands als Designerin voll und ganz gerecht wird das Layout des Buches. Die Buchgestalterin Karin Miller verwendete dafür kräftiges Gelb, Rot und Blau, nahm Kernsätze aus dem Text heraus und stellte sie gesondert und vergrößert ins Buch hinein (das hilft beim ersten Durchblättern), und sie bediente sich aus dem umfangreichen Foto-Nachlass Perriands, der sowohl viele eigene als auch Bilder anderer FotografInnen enthält.
Laure Adler: Charlotte Perriand. Ihr Leben als moderne und unabhängige Frau. Aus dem Französischen übersetzt von Martin Bayer. Elisabeth Sandmann Verlag, München 2020.
18.7.2020