„Wie die Oberfläche einer Kugel keinen Anfang und kein Ende hat, und wie jeder Mensch, der wo immer auf der Erde steht, auf ihrer Mitte steht: so hat das Jahr nicht irgendwo seinen Anfang und nicht irgendwo sein Ende. Die Erde läuft in ihrer Eilinie um die Sonne fort und fort, und an jedem Punkte dieser Linie kann man den Anfang eines Umlaufes annehmen, und an demselben Punkte sein Ende, wenn die Erde wieder zu ihm gekommen ist. Wohl hätte man auch natürliche Anhaltspunkte. Da die Erdachse gegen die Ebene der Erdbahn geneigt ist, so hat jede der zwei Erdhälften, die nördliche und die südliche, während eines Umlaufes einmal eine Stellung, in der sie der Sonne am meisten zugewendet ist, und da hat sie den längsten Tag, dann eine Stellung, in der keine Zuwendung vorherrscht, Tag- und Nachtgleiche, dann eine Stellung, in der sie von der Sonne am meisten weggewendet ist, kürzester Tag, dann zweite Tag- und Nachtgleiche. Einen dieser Punkte könnte man als Anfangspunkt und Endepunkt des Jahres nehmen. Aber Tag- und Nachtgleichen sind zwei, und kürzester und längster Tag sind in den zwei genannten Erdhälften entgegengesetzt.
Man hat bei uns für das gewöhnliche Leben einen Tag im Winter genommen, der der erste des Jahres ist, nämlich den ersten Tag des Monates Jänner. Den Jänner nennen wir dann den ersten Monat, und zählen im Jahre die zwölf Monate fort, bis zum letzten, dem Dezember, dessen letzter Tag der letzte Tag des Jahres ist. Er ist der Tag des heiligen Sylvester, sein Abend ist der letzte Abend im Jahre, der Sylvesterabend. Und diese Einrichtung hat sich so in unsere Landsleute eingelebt, dass die meisten nicht anders glauben, als das Jahr ende wirklich mit dem Sylvestertage, ein neues beginne mit dem ersten Jänner. Und darnach treffen sie ihre Anstalten. Der Jahreszahl, die wir seit der Geburt Christi schreiben, wird eine Einheit zugelegt. Die Kirche feiert den ersten Jännertag als ein hohes Fest und segnet so gleichsam das Jahr ein. Schon an dem Sylvesterabende werden meistenteils Vorbereitungen gemacht, und werden Vorfeiern gehalten. (…)
Und dann geht man zur Ruhe und schlummert dem Beginne des neuen Jahres entgegen. Andere begehen rauschender den Abend, und müssen noch den zwölften Glockenschlag hören, der die letzte Sekunde des alten Jahres begräbt. Gesellschaften vereinzelter Menschen oder anderer finden sich in Gasthäusern zusammen, und verjubeln den Abend. Und dessen Lebenszweck das Vergnügen ist, der schreibt dem heiligen Sylvester die Schuldigkeit zu, dass an diesem Tage ein noch größeres Vergnügen komme, und er arbeitet nach Kräften darauf hin. Junge Leute jauchzen in manchen Gegenden um die Neujahrsmitternacht im Freien, oder singen Lieder oder schießen mit Feuergewehren das neue Jahr an, oder treiben andere Gebräuche oder anderen Unfug. Alles, was an Geschäften einen Jahresabschluss fordert, ist in ordentlichen Gebarungen am Sylvesterabende geschlossen und ein neues Blatt für das neue Jahr ist vorbereitet.
Dass viele Menschen an diesem Abende mit ihrem Gewissen Abrechnung halten, ist zu vermuten. Die Besseren tun es gewiss. Ob der ganz Versunkene vor sich schaudert und an Umkehr denkt, wer kann es wissen? Dass mancher Unglückliche in dieser Nacht seufzt und manche Hand noch bitter arbeiten muss, um für den Besteller das Feststück fertigmachen zu können, davon sprechen wir nicht, da wir von den Neujahrsvorbereitungen sprechen, nur tun Seufzer und bittere Arbeit in dieser Nacht noch weher.
Auch der Aberglaube hängt sich an den Sylvesterabend, und gegossenes Blei, eine Zeichnung im Kaffeesatze, ein verlöschender Funke an angezündeten Gegenständen, ein geworfener Schuh muss verkünden, ob der Herzenswunsch im künftigen Jahre in Erfüllung gehen werde. Und was ist meistens der Herzenswunsch? Wir schweigen darüber. Und so sieht diese Nacht auf manches hernieder. Sie endet auch, der neue Tag kommt, und das neue Jahr ist da. (…)
Und ehe ich die Feder niederlege, schreibe ich noch auf das Blatt: Ein freudenreiches neues Jahr für alle, welche diese Zeilen lesen, und für alle, welche sie nicht lesen, und dass der Himmel füge, dass das Gute, das manchen zuteil ist, daure, und dass der tiefe Schmerz, der in manches Herz gekommen ist, sich mildere.“
Dieser Text ist die gekürzte und der heutigen Orthografie angepasste Fassung eines Beitrages, den der Schriftsteller Adalbert Stifter 1866 in der Zeitschrift „Die Gartenlaube für Österreich“ veröffentlichte.