Diesmal soll davon die Rede sein, dass man auch an den Rändern der Stadt gehen und verweilen kann, dass es möglich ist, in Wien zu bleiben und dennoch 100 Städte zu sehen, und schließlich, wie man bei einem Streifzug 17 literarische Stationen entdecken kann.
Oskar Aichinger hat mit „Ich bleib in der Stadt und verreise“ bereits einmal ein Buch über sein Gehen und Verweilen in Wien geschrieben. Das wurde zum Erfolg – und nun hat Aichinger sein Flanieren an den Rändern von Wien zum Thema eines weiteren Buches gemacht hat. Dieses trägt den Titel „Fast hätt ich die Stadt verlassen“. Man kann ja gleich einmal über dieses „hätt ich“ im Titel nachdenken, es klingt weicher, passt gut zum „fast“. „Hätte“ käme Aichinger nicht über die Lippen, „hätte“ ist in der österreichischen Umgangssprache nicht vorgesehen, das „e“ wird weggelassen.
Aichinger leitet das Buch damit ein, wie er, der Bub aus der oberösterreichischen Provinz, über die Zwischenstation Salzburg sich sein Wien erobert, das heißt: ergangen hat. Und beginnt – weil man ihm in Salzburg gesagt hatte, es würden ihm in Wien die Berge fehlen – mit einem der Hausberge der Stadt, dem Leopoldsberg. Er beschreibt die U-Bahn-Fahrt dorthin, steigt in Heiligenstadt aus und ist vom Karl-Marx-Hof begeistert. (Dieser, 1930 erbaut, ist einer der prominentesten Gemeindebauten Wiens und mit rund 1.050 Metern Länge vermutlich der längste zusammenhängende Wohnbau der Welt.)
Bei Aichinger ist der Weg das Ziel, seine nächste Station ist das Kahlenbergerdorf an der Donau, von wo aus er über den sogenannten „Nasenweg“ den Leopoldsberg erklimmt und die Aussicht beschreibt. Der Blick auf das Stift Klosterneuburg verleitet ihn dazu, ein Lied im Balladenton anzustimmen, denn er ist ja nicht nur ein Flaneur, er ist hauptberuflich Komponist und Jazzpianist. Auch beim Werkelmann im Böhmischen Prater am Laaerberg oder wenn er auf Spuren Josef Kyselaks trifft (jenes Mannes, der sich, im frühen 19. Jahrhundert, bei seinen Wanderungen an den möglichsten und unmöglichsten Stellen mit seinem Namen verewigt hat), ist Aichinger das Beschreiben zu wenig, immer muss er auch noch ein Lied dazu machen. Ein Ziel habe er bei seinem Gehen nur ungefähr vor Augen, weil er seit jeher zur Schlamperei neige, schreibt er, und dass er immer bereit sei, sich vom rechten Weg abbringen zu lassen: „Von einem Blick, einem Klang, einem Geruch.“ Er ist einer, dem beim Gehen allerhand in den Sinn kommt, er assoziiert breit ausufernd, mal hört man ihm zu, dann lässt man ihn wieder einfach so dahinreden, wenn er über Dinge schreibt, die ihn stören. Gleich aber passt man wieder auf, wenn er zum Beispiel über Kunst räsoniert oder darüber, wie die ideale Stadt beschaffen sein sollte.
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„Almost“ heißt ein Buch, das den Untertitel „100 Städte in Wien“ trägt. Unsereinem geht es ja in fremden Städten oft so, dass man Ähnlichkeiten mit der eigenen Stadt zu erkennen meint. Wojciech Czaja, der Autor des Buches, sieht das aus der umgekehrten Perspektive. Er ist Buchautor, Journalist, Moderator und Dozent an der Kunstuniversität Linz und an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Seine Themen sind Architektur, Stadtkultur und Immobilienwirtschaft. Und er ist leidenschaftlicher Reisender und Stadtbeobachter. Weil ihn der Lockdown daran hinderte, hinaus in die weite Welt zu fahren, setzte er sich auf seine Vespa und fuhr in Wien umher – und fand in Gassen, auf Plätzen und an Häusern in der Innenstadt ebenso wie am Stadtrand Motive, Elemente und Strukturen, die ihn an Orte in fremden Städten erinnerten. 100 Städte konnte er so in Wien entdecken und fotografisch dokumentieren. So findet sich zum Beispiel im 11. Wiener Gemeindebezirk, an der Simmeringer Hauptstraße, „Almost Rio de Janeiro“ in Form einer Jesus-Statue mit ausgebreiteten Armen, fast so, wie sie auf der Spitze des Corcovado im Süden Rio de Janeiros steht – und aus der entsprechenden (eben Wojciech Czajas) Perspektive betrachtet, vergisst man da auch die doch sehr unterschiedlichen Größenverhältnisse.
Man ist zuerst einmal verblüfft, wie viele Motive Czaja da gefunden hat, die man selbst nie entdeckt hätte. So bin ich schon tausende Male an einem roten Haus in der Hernalser Hauptstraße vorbeigefahren. Wojciech Czaja fotografierte es und meint, dass es ihn an Gomel, die zweitgrößte Stadt Weißrusslands erinnere. So kann das Fremde in Wien faszinieren, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird, dass man sich zum Beispiel in der Barnabitengasse wie in Paris fühlen kann oder in der Hadersdorfer Hauptstraße im Auhof wie im kalifornischen Bel-Air.
Am Beginn des Buches zeigt Czaja, wo die 100 Wiener Plätze ungefähr liegen, am Ende ist auf einer Weltkarte zu sehen, wo sich die 100 Städte befinden, die er in Wien gefunden hat. „In Floridsdorf habe ich Pittsburgh gefunden“ lautet der Titel eines Interviews, das Anna Soucek mit Czaja geführt hat und das ebenfalls im Buch enthalten ist. Darin meint er: „Gerade bei Wiener Sehenswürdigkeiten und Straßen und Plätzen, wo man schon tausendmal war, ist es sehr anstrengend, nicht das zu sehen, was man immer schon gesehen hat“.
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Es tut den Wienerinnen und Wienern recht gut, wenn einmal jemand, der von außen kommt, durch die Stadt geht und sein „Wien zum Verweilen“ herzeigt. So wie Ralf Nestmeyer, ein deutscher Historiker und Reisejournalist, der Wien in Versen und Zeilen entdeckt. Vom Stephansplatz bis zum Zentralfriedhof begleiten ihn dabei 17 literarische Texte. Zunächst beschreibt Nestmeyer den jeweiligen Ort und stellt den Autor, die Autorin vor, bevor er oder sie dann mit einem ganz speziellen Text zu Wort kommen. Da da finden sich der Stephansplatz mit einem Text von Joseph Roth, das Konzerthaus und dazu Stefan Zweig, der Prater mit Arthur Schnitzler, der Michaelerplatz mit Karl Kraus – aber auch die Theresiengasse, eine kleine Gasse im 18. Wiener Gemeindebezirk. Peter Rosei gelingt es, in dieser Gasse, die so unauffällig wirkt, das Besondere zu finden – vielleicht auch deswegen, weil man von ihr ins sogenannte „Cottage“ schaut, das Villenviertel in Währing. Und natürlich ist das Café Griensteidl dabei, das es nur noch in der Literatur gibt, oder jene Trafik in der Währingerstraße, die es ebenfalls nicht mehr gibt und in der – laut Robert Seethaler – Sigmund Freud immer seine Zigarren kaufte. Die Strudlhofstiege Heimito von Doderers, das Ungargassenland der Ingeborg Bachmann, die Kanalisation, die Graham Greene im „Dritten Mann“ zum Schauplatz machte, und das Hotel Bristol, das Klaus Mann 1933 besuchte, sind einige weitere Stationen in dem kleinen Büchlein, das durchaus zum Flanieren mitgenommen werden kann.
Oskar Aichinger: Fast hätt ich die Stadt verlassen. Vom Gehen und Verweilen an den Rändern von Wien. Picus Verlag, Wien 2020.
Wojciech Czaja: Almost. 100 Städte in Wien. Edition Korrespondenzen, Wien 2021.
Ralf Nestmeyer: Wien zum Verweilen, Reclam Verlag, Ditzingen 2020.
22.3.2021