Die Schulerstraße in der Wiener Innenstadt ist ein etwas verstecktes Gässchen, das beim Stephansplatz beginnt und in Richtung Parkring führt. Wer hier entlangflaniert, kann geschichtsträchtige Häuser entdecken, so etwa eines der ältesten Hotels der Stadt oder ein ehemaliges Bierhaus, in dem nun ein Restaurant untergebracht ist, ein paar weitere Gaststätten sind im Verlauf der Straße zu finden, einige Textilgeschäfte und auch eine Buchhandlung. Es lässt sich angenehm schlendern, ruhig und beschaulich ist es hier.
Ganz anders erlebte es 1870 ein nach Wien entsandter Mitarbeiter des Stuttgarter Wochenblattes „Über Land und Meer“, der davon berichtete, dass sich den ganzen Tag über eine „wogende Menschenmenge“ durch diese Straße bewege, dass stets viel Trubel und große Geschäftigkeit herrsche. Der Grund dafür sei, dass in der Schulerstraße etliche Redaktionen und vor allem zahlreiche Expedite, also die Auslieferungen, von Zeitungen und Zeitschriften angesiedelt seien. Mit seinem Artikel, dem er den Titel „Die Zeitungsgasse in Wien“ gab, lieferte der mit A. S. zeichnende Reporter seinem Publikum ein detailreiches Stimmungsbild, das aus heutiger Sicht sowohl medienhistorisch als auch sozial- und stadtgeschichtlich interessant ist.**
Tatsächlich war die „Zeitungsgasse“, wie der schmale Straßenzug bis ins frühe 20. Jahrhundert häufig genannt wurde, ein Zentrum des Zeitungswesens. So etwa finden sich 1870 im Wiener Adressbuch „Lehmann“ 28 in der Schulerstraße angesiedelte Redaktionen und Expedite (oder, wie es damals hieß, „Expeditionen“).
Schon zu Tagesanbruch herrschte dort, wie A. S. berichtete, vor den Auslieferungen viel Leben und Treiben, denn da „harrt bereits die männliche und weibliche Schar der ‚Austräger‘ aller Altersstufen auf den ersten, welcher die Schlösser von der Ladentür löst. Die Wagen rollen mit Zeitungsstößen heran, Träger, mit Packen schwer beladen, keuchen herbei; nun wird ausgeteilt. Der eine bekommt so viele Hunderte, der andere Tausende, der dritte Dutzende des Blattes. Jeder oder jede rennt, wie von Eumeniden verfolgt, davon, denn es gilt in die entfernteste Vorstadt, in die Fabrik, in den Tabak- und Zeitungsverschleißladen, in den Abonnentenbezirk, ja zu dem ländlichen Omnibus zu eilen, welche bereits harren und die Zeitung verlassen, den Austräger zurückweisen würden, wenn sie nicht bereits frühe die Nummer hätten.“
Bald nach den ZeitungsausträgerInnen erschien „die Schar der Auskunft Verlangenden. Die Expedition gibt berufsmäßig Auskunft über die kleinen Inserate, welche Wohnungen, gebrauchte Möbel, Gouvernantenstellen, verlorene Hunde, ausgeflogene Papageien, reiche Bräute, Herren jeden Standes, die sich verheiraten wollen, hilfsbedürftige Verlassene, ‚ernstgemeinte Anerbieten‘ jeder Sorte und mitunter nicht unpikante Geheimnisse betreffen.“
Ebenso war es die Aufgabe der Expedite, die neu hereinkommenden Inserate entgegenzunehmen, denn „Geschäftliches“ war räumlich „strenge getrennt“ von den Redaktionen, die sich in teilweise auch in anderen Gebäuden befanden – so etwa in der parallel verlaufenden, renommierteren Wollzeile, von der aus man die Expedite „durch kleine Zwischengässchen oder mehrere Durchhäuser in einer Minute erreichen konnte.“
„Noch eine Menschensorte füllt des Tages über in wechselnden Gruppen die Straße“, wusste A. S. 1870 über die Wiener „Zeitungsgasse“ zu berichten: „Für sie ist die Zeitung so angeklebt, dass man sämtliche Flächen zu lesen vermag. Hieraus wird nun Gratispolitik geschöpft, oder eine flüchtige, mühelose Gratiseinsicht in den heutigen Inhalt der Nummer gewonnen“. Die Aushangtafeln bei den Zeitungsexpediten waren auch, so ist dem Bericht zu entnehmen, für jene Menschen, die nicht lesen konnten, eine Möglichkeit, sich über Aktuelles zu informieren, denn hier fanden sich „Bereitwillige, die ihnen über dieses und jenes erbetene Auskunft erteilen.“
Noch mehr Gedränge als bei der Auslieferung der Morgen-Ausgaben der Zeitungen gab es in der Wiener „Zeitungsgasse“ am späten Nachmittag, wenn die Abendblätter herauskamen: „Amtsdiener, Hausdiener, Köchinnen, Lehrjungen, alte Herren, die auf dem Heimwege begriffen sind, Kellner und Marqueure mit ihren weißen Wischtüchern neben jugendlichen Küchen- und Stubenmädchen bilden allmählich und endlich einen lebendigen Sturmbock, welcher gegen die Expeditionstüren gelegt ist. Hier hört man: ‚Heutʼ dauertʼs aber lang!‘, dort wird gekichert, gleich daneben geschimpft, disputiert, endlich hart gedrängt, fast gebalgt! Die Glastüre klirrt, der Einlass und die Abendblattausgabe beginnt. Es ist zuweilen ein Schlachten, keine Schlacht zu nennen!
Die Expeditoren schwitzen, die Andrängenden schonen weder fremde Hühneraugen, noch eigene Ellbogen. Es wird geschrien und gerafft, was errafft werden kann – und man stiebt auseinander in eiligster Flucht. Die Hausfrauen warten schimpfend neben leeren Kaffeekannen, die Kaffeehausgäste ungeduldig auf die Kurse, die Herren Beamten auf die Amtsblattauszüge und Ernennungen, die Politiker auf die Telegramme, die Korrespondenten und Journalisten auf den neuen Stoff, alle Welt will zwischen morgens und abends ganz Neues!“
„Die Zeitungsstraße ist ein Parlament, ein Kriegslager, je nach der Art der erwarteten neuen Nachrichten, sie wandelt sich auch zum Gerichtshofe, zum Schauerraume, wenn Aburteilungen oder eine schreckliche Mordtat am heimischen Horizonte steht. Die Zeitungsstraße könnte täglich Dramen und Romane liefern. Erkennungen, Wiederfindungen, Glück und Unheil tauchen da auf, verknoten sich und schlingen sich in das Leben unzähliger Menschen.
Unmessbare Millionen werden hier jährlich umgesetzt und gefördert. Hier kann man allerdings nicht wissen, aber ahnen, wie viel Menschen-Wohl und -Wehe von der Existenz der Journale abhängt“ – so resümierte der Korrespondent von „Über Land und Meer“ in seinem Bericht über die „Wiener Zeitungsgasse“.
Die Modernisierung der Vertriebsformen im Zeitungswesen führte dazu, dass im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Expedite nach und nach von der schmalen Schulerstraße an leichter zugängliche Orte verlegt wurden. Und damit geriet es allmählich in Vergessenheit, dass sich einst hier die Wiener „Fleet Street“ befunden hatte.
** A. S.: Die Zeitungsgasse in Wien. In: Über Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung. Stuttgart 1870, Heft 45, S. 9f. Die in diesem Beitrag zitierten Textteile wurden der aktuellen Orthografie angepasst.
6.3.2021