„Whoever makes a Design without the Knowledge of Perspective will be liable to such Absurdities as are shewn in this Frontispiece” („Wer einen Bildentwurf ohne Wissen um die Perspektive macht, wird zu derartigen Absurditäten neigen, wie sie in diesem Frontispiz gezeigt werden“).
Das formulierte der englische Maler und Grafiker William Hogarth (1697–1764) als Bildunterschrift zu jenem Kupferstich, den er für seinen Freund und Künstlerkollegen Joshua Kirby (1716–1774) entworfen hatte. Dieser publizierte 1754 das Buch „Dr. Brook Taylorʼs Method of Perspective Made Easy, Both in Theory and Practice”. Mit dem erfolgreichen, mehrfach neu aufgelegten Band lieferte Kirby ein umfassendes Werk zu Theorie und Praxis perspektivischer Darstellung. Er bezog sich dabei, wie im Titel vermerkt, auf den englischen Mathematiker Brook Taylor (1685–1731) und ergänzte dessen Grundlagenarbeit durch viele Erklärungen und Beispiele. Außerdem stattete Kirby das Buch mit zahlreichen Illustrationen aus, die er selbst gezeichnet hatte. Dabei ging es durchwegs um Methoden zur Erstellung der richtigen Perspektive. Auf der Frontispizseite aber, gegenüber dem Titelblatt, sollten, in humorvoller Weise, perspektivische Fehler dargestellt werden, und Kirby wandte sich an William Hogarth – denn dieser, ein Meister der Bildsatire, war dafür genau der Richtige.
Hogarth hat in seine Zeichnung (die von seinem Mitarbeiter Luke Sullivan in Kupfer gestochen wurde) eine große Anzahl von perspektivisch falsch dargestellten Elementen eingebaut. Zu den augenfälligsten gehört jener Mann auf dem Hügel (in der rechten oberen Bildhälfte), der sich seine Pfeife an der Kerze einer Frau anzündet, die sich aus einem Fenster lehnt. Außerdem ist der Mann überdimensional groß im Vergleich zu den nahen Bäumen. Deutliche Fehler finden sich auch beim Hausschild, das, ohne dass die Balken einen Tiefenunterschied zeigen, an jedem der beiden hintereinander stehenden Gebäude befestigt ist. Absurd wirkt es außerdem, dass das Schild von zwei entfernt stehenden Bäumen überlagert wird. Und auch bei den Bäumen stimmt die Perspektive nicht, da sie mit zunehmender Entfernung immer größer dargestellt sind, außerdem ist der Vogel, der auf dem entferntesten Baum sitzt, übermäßig groß. Derselbe Effekt wie bei den Bäumen findet sich bei den Schafen in der linken unteren Bildhälfte: die Tiere scheinen umso größer zu werden, je weiter sie sich entfernen.
Bei genauerem Hinsehen finden sich noch zahlreiche weitere perspektivische Absurditäten. Zum Beispiel:
*) Die Angelschnur des Mannes im Vordergrund verläuft hinter jener des weiter entfernten Anglers.
*) Beim großen Fass neben dem Angler im Vordergrund ist gleichzeitig die Ober- und die Unterseite zu sehen. Dasselbe gilt für das Fass daneben, das gleichzeitig nach vorne und nach hinten zu kippen scheint. Das Fass rechts davon scheint tiefer zu liegen als die beiden anderen, obwohl der Boden eben ist.
*) Der Untergrund, auf dem der Mann im Vordergrund steht, scheint nach unten zu stürzen.
*) Die Wände, Mauern, Fenster- und Dachkanten der beiden Gebäude im Vordergrund verlaufen nicht aufeinander abgestimmt und sind auf unterschiedliche Fluchtpunkte hin orientiert.
*) Die Kirche, die im Wasser zu versinken scheint, wirkt in ihrer Konstruktion völlig verdreht und so, als ob man sie gleichzeitig von vorne, von beiden Seiten und von oben sehen würde.
*) Ebenso verdreht wirken die beiden großen Bäume auf der linken Bildseite.
*) Ein weiterer großer Baum wächst aus der Mitte der Brücke heraus.
*) Der Schwan in der linken oberen Bildhälfte ist größer als die Personen im Boot vor ihm.
*) Der Mann im Boot unter der Brücke scheint auf diesen Schwan zu schießen, was aber nicht möglich ist, da er ihn unter dem Brückenbogen gar nicht sehen kann und auf den Bogen zielt.
*) Das rechte Ende des Brückenbogens scheint weiter entfernt auf das Wasser zu treffen als das linke.
*) Der Schwan im Vordergrund ist im Vergleich zu den Schafen und zum Hund (neben dem entfernteren Angler) überproportional groß.
*) Auf der linken Bildseite fällt der Horizont auf dem Wasser steil ab.
Das Besondere an dem später meist als „Satire on False Perspective“ bezeichnetem Werk ist es sicherlich, dass William Hogarth eine derartige Vielzahl von Fehlern zu einem perfekten Meisterwerk zusammenzufügen verstand!
2.2.2021