„Ich weiß noch, wie gern ich als Kind in meinem Atlas blätterte und um die Welt reiste…“, gibt Thomas Reinertsen Berg, ein norwegischer Journalist und Autor, gerne zu. Seine Leidenschaft für Karten ist ihm erhalten geblieben, hat ihn auch dazu gebracht nachzufragen, warum Karten überhaupt erstellt worden waren und wer sie gezeichnet hatte. In seinem Buch „Auf einem Blatt die ganze Welt“ fand er nun Gelegenheit, „die Geschichte all jener Frauen und Männer zu erzählen, deren fantastische Arbeit es verdient, gefeiert zu werden.“ (Worin die immer wieder festzustellende kindliche Faszination an Atlanten wirklich begründet ist, ist eine andere Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. Denn ein Kind verbindet ja mit einer Landkarte nichts Reales, kein wirkliches Abbild all der fremden Länder.)
Zum Buch: es sind sieben mal sieben, also neunundvierzig, Karten, anhand derer Thomas Reinertsen Berg erklärt, welche Rolle Wissenschaft und Weltbild, Kunst und Technik, Macht und Ambitionen schon immer bei der Erstellung von Landkarten und Globen gespielt haben, denn „Karten zeigen uns stets mehr als bloße Geographie, Karten sind Weltbilder – Bilder der Welt.“ Und so verfolgt er das kartografische Geschehen von den Spekulationen der alten Griechen über den religiösen Blick des Mittelalters bis zu den enormen Datensammlungen in unserem digitalen Zeitalter. Im Vorwort zitiert er den amerikanischen Kartografen Waldo R. Tobler: „Everything is related to everything else, but near things are more related than distant things.“ Und er erklärt damit den Umstand, dass man beim Anblick einer neuen Karte immer zuerst den Heimatort, beim Anblick eines neuen Plans immer zuerst die Wohnadresse sucht. Hat man das einmal gefunden, kann man sich auf die Reise begeben.
Es ist eine faszinierende Reise, auf die einen Reinertsen Berg da mitnimmt, wenn er die Menschheit dabei verfolgt, die Welt in Worte und Bilder zu fassen, Ordnung und Struktur in sie zu bringen. Vor 40.000 Jahren begannen die Menschen, die Welt in Bildern darzustellen, zwischen 38.000 und 32.500 Jahre alt ist die vermutlich älteste – in einen Mammutstoßzahn geritzte – Karte der Welt.
Reinertsen Bergs Buch über die Geschichte der Landkarten ist sowohl ein Bilder- als auch ein Lesebuch. Die grafische Schönheit der Nachzeichnungen uralter, in Fels geritzter Karten ist das eine, das andere, dass man sich auf einmal in der Vogelperspektive auszukennen beginnt, die Pfade sieht, Felder, Häuser und dann sogar Tiere und Menschen erkennt. So ist es nie nur ein rein genießerisches Schauen, sondern es kommt dann – eben durch die Anleitungen des Autors – intellektuelles Erkennen dazu. Wenn Thomas Reinertsen Berg meint, dass die vom venezianischen Mönch und Kartografen Fra Mauro zwischen 1457 und 1459 gefertigte Weltkarte die vielleicht schönste Karte sei, dann kann man das nachvollziehen, aber eben auch die Erklärung im Hinterkopf mitdenken, dass sie einen Übergang von der mittelalterlichen biblischen Kartentradition zur modernen wissenschaftlichen Kartografie darstellt. Ein Bilderbuch also auch. Primär doch ein Lesebuch. Denn Thomas Reinertsen Berg – und mit ihm seine Übersetzer Frank Zuber und Günther Frauenlob – schaffen es, Wissenschaftsgeschichte nicht trocken-distanziert, sondern anteilnehmend und mitfühlend als eine Geschichte von Menschen, ihren Fehlern, Irrtümern, Abenteuern und Erfolgen aufzuschreiben.
Zwei Beispiele für viele Biografien: So wurde Landvermessern im 18. Jahrhundert – in harmloseren Fällen – von der Lokalbevölkerung manchmal die Ausrüstung gestohlen, es konnte aber auch geschehen, dass sie wegen des Vorwurfs, die Felder zu verhexen, umgebracht wurden. Oder aber die Biografie der Amerikanerin Marie Tharp. Die Geologin und begabte Zeichnerin entdeckte in den 1950er Jahren einen fast durchgängigen gebirgigen Spalt rund um die Erde als 65.000 Kilometer lange Unterwasserformationen. An diese wollte der damalige Star unter den Tiefseeforschern, Jacques Cousteau, vorerst nicht glauben, bis er das Gebiet filmte und man den Graben deutlich erkennen konnte: „Tharp bekam mit eigenen Augen zu sehen, was sie sich sieben Jahre lang nur vorgestellt hatte.“
Natürlich behandelt Reinertsen Berg gegen Ende seiner Überlegungen auch Google Earth, sieht es als fantastisches Werkzeug, fragt dennoch, ob es nicht zu dominant geworden sei. Eine Frage steht auch am Ende des Buchs: Werden unsere neuen, wunderbaren Karten in vierhundert Jahren ebenso alt aussehen wie heute das „Theatrum Orbis Terrarum“, der 1570 erschienene, erste moderne Atlas der Welt, geschaffen vom flämischen Geografen und Kartografen Abraham Ortelius.
Thomas Reinertsen Berg erhielt für seine – überaus bibliophil gestaltete – Geschichte der Landkarten, Globen und ihrer Erfinder den norwegischen Bragepreis, einen renommierten Literaturpreis, in der Kategorie Non-Fiction.
Thomas Reinertsen Berg: Auf einem Blatt die ganze Welt Die Geschichte der Landkarten, Globen und ihrer Erfinder. Aus dem Norwegischen von Frank Zuber und Günther Frauenlob. dtv Verlagsgesellschaft, München 2020.
6.2.2021