
Der Volksgarten ist ein Park an der Wiener Ringstraße, der 1823 eröffnet wurde. Eine lange Tradition haben Konzerte im Volksgarten, und wenn in den 1850er Jahren Johann Strauss Vater und Josef Lanner dort aufspielten, so waren es in den 1950ern unter anderen Ella Fitzgerald und Joe Zawinul. Ein Stimmungsbild von einem Konzert im Volksgarten zeichnete 1928 der Schriftsteller Joseph Roth:
Das Konzert im Volksgarten begann um fünf Uhr nachmittags. Es war Frühling, die Amseln flöteten noch in den Sträuchern und auf den Beeten. Die Militärkapelle saß hinter dem eisernen, an den Spitzen vergoldeten Gitter, das die Terrasse des Restaurants von der Allee des Gartens trennte und also die zahlenden und sitzenden Gäste von den unbemittelten Zuhörern. Unter ihnen befanden sich viele junge Mädchen. Sie waren der Musik hingegeben. Aber die Musik bedeutete an jenen Abenden mehr als Musik, nämlich: eine Stimme der Natur und des Frühlings. Die Blätter überwölbten die schmetternde Wehmut der Trompeten – und ein Wind, der kam und ging, schien für kurze Weilen die ganze Kapelle samt allen Geräuschen auf der Terrasse in entlegene Gebiete zu entführen, aus denen sie mehr geahnt als vernommen wurden. Gleichzeitig hörte man die langsam knirschenden Schritte der Fußgänger in der Allee. Aus ihrem gemächlichen Tempo klang das Behagen wieder, das die Musik den Ohren bescherte.
Wenn die Instrumente laut wurden, die Trommeln zu wirbeln begannen oder gar die Pauken zu dröhnen, so war es, als rauschten auch die Bäume stärker und als hätten die heftigen Arme des Herrn Kapellmeisters nicht nur den Musikern zu gebieten, sondern auch den Blättern. Wenn aber plötzlich ein Flötensolo den Sturm unterbrach, so klang es in diesem Garten nicht wie die Stimme eines Instruments, sondern wie eine Pause, die singt. Dann fielen auch die Vögel wieder ein – als hätte der Komponist an dieser Stelle Amseln vorgesehen. Der Duft der Kastanien war so stark, dass er selbst die süßesten Melodien überwehte und dass er dem Gesicht entgegenschlug wie ein Bruder des Windes. Und von den vielen jungen Mädchen in der Allee kam ein Glanz, ein Geflüster und besonders ein Lachen, das noch näher war als die Mädchen selbst und vertrauter als sie. Sprach man dann mit einer Fremden, so glaubte man, sie schon gehört zu haben. Und entfernte man sich mit ihr aus dieser Allee in eine andere, eine einsame, so hatte man nicht nur ein Mädchen mitgenommen, sondern auch etwas von der Musik, und man trat in die Stille ein wie in eine jener singenden Pausen.
Es galt nicht für angemessen, draußen am Gitter zu lehnen und die Mädchen merken zu lassen, dass man leider nicht in der Lage war, drinnen einen Kaffee zu trinken. Deshalb ging ich auf und ab in der Allee, verliebte mich, verzweifelte, vergaß, verschmerzte, trauerte nach und verliebte mich wieder – und alles innerhalb einer Minute. Ich hätte gerne stehend zugehört und nichts weiter. […] Gelegentlich erhaschte ich eine graziöse Schleife, die der schwarzlackierte Dirigentenstab mit der silbernen Spitze in der Luft geschlungen hatte. Sie blieb vor meinen Augen, eine ständig wehende Erinnerung.
Joseph Roths Text „Konzert im Volksgarten“, der hier in einer gekürzten Fassung wiedergegeben ist, erschien am 8. April 1928 in der Frankfurter Zeitung.