Die kleinen Gassen und die großen Straßen, das gegenwärtige, das vergangene und das literarische Wien sind die Inhalte von Büchern, die sowohl für Wien-Touristen gedacht sind als auch den Einwohnern dieser Stadt Wissens- und Nachdenkenswertes bieten.
Durchgänge und Durchhäuser, Hinterhöfe und versteckte Gassen sind die Schauplätze des Buches „Geheime Pfade“, das Gabriele Hasmann und Charlotte Schwarz herausgegeben haben. Die eine – Gabriele Hasmann – erzählt Geschichte und G’schicht’ln, die andere – Charlotte Schwarz – zeigt Fotos. Natürlich ist das auch ein Buch für Wien-Touristen, aber gerade bei den Fotos könnte man sich – als Bewohner dieser Stadt – selbst prüfen, wie gut man Wien denn wirklich kennt, ob man bei den Motiven – sooft man auch an ihnen vorbeigegangen mag – sagen kann, wo das denn nun genau wäre.
Diese Bilder sind vor allem eines: traumhaft schön, wobei das Traumhafte auch daher kommt, dass Charlotte Schwarz sie ein wenig ins Mystische hin bearbeitet hat. Das alles ist natürlich geordnet, beginnt mit dem ersten Bezirk, in der Inneren Stadt, auf der Mölker Bastei, geht dann weiter über Leopoldstadt, Landstrasse, Wieden, Margareten, Mariahilf, Neubau, Josefstadt. Der Schlusspunkt wird mit dem Schwarzspanierhaus im Stadtteil Alsergrund gesetzt. Und: Absicht oder Zufall? Anfang und Schluss sind jeweils Adressen auch Beethoven’scher Wohnungen.
Die literarische Allrounderin Gabriele Hasmann hat sorgfältig recherchiert und damit ihrem lockeren Unterhalten einen seriösen Hintergrund gegeben. Sie beschreibt die Lokalitäten, führt durch die Durchgänge in die Hinterhöfe, weiß die Geschichten der Häuser, die historische Bedeutung der Gassen, und sie gibt in den jeweiligen Grätzeln noch zusätzlich erwähnenswerte Adressen an. Das alles ist eher konzentriert als ausufernd, erschlägt einen nicht, sondern ermuntert im Gegenteil dazu, das eine Durchhaus, den anderen Hinterhof aufzusuchen.
Ein ähnliches Thema hat Norbert Philipp für sein Buch „Die Adern Wiens“ gewählt. Er ist da „den Wiener Straßen auf der Spur“. Dennoch geht er es ganz anders an, er fragt zuerst einmal, was denn eine Stadt ausmache, welche Funktionen darin die Straßen hätten, und wendet sich dann der Einzigartigkeit des Wiener Straßennetzes zu, legt ausführlich dar, wie dieses von Raum und Zeit geformt wurde. „Die Straßen wurden zu Strahlen. Und diese wiederum ließen Wien zur Sonne werden.“ Philipp ist es weniger wichtig, einem Stadttouristen kurz und knapp Sehenswürdigkeiten zu vermitteln, als eher – wenn man will: philosophisch – sich in das Wesen der Wiener Straßen zu vertiefen. Der studierte Sprachwissenschaftler verwendet Ausdrücke wie „charmante Kurven und Knicke“, dass sich Wien „von innen nach außen stülpe“ und dass Ring und Gürtel, das Wichtige „einkringeln“. Philipp lässt den Verkehr „einrollen“, verfolgt Gekrümmtes, Gekurvtes und schön Gebogenes, ist mit Friedensreich Hundertwasser einer Meinung, dass die Gerade eine zutiefst menschliche Erfindung sei, „dass der Natur so etwas nicht eingefallen wäre“.
Er weiß von der Bedeutung des Wassers und der Wasserwege, kommt zur Gründerzeit und dann in unsere Tage, in denen man versucht, die Straßen wieder grün werden zu lassen. Er schreibt von Bedürfnisanstalten, Würstelständen, Würfeluhren und Straßenbeleuchtung, bevor er dann im Detail neun Straßen – von der Josefstädter Straße bis zur Margaretenstraße – und als zehnte die Höhenstraße beschreibt. Ein Beispiel für seinen Tonfall: die Währinger Straße, die er in der Weltstadt beginnen und im Dorf enden lässt, sieht er im „Spannungsverhältnis einer prachtvoll verzierten Vergangenheit und einer glatt-kühlen Gegenwart.“ Und so wird das – von Straße zu Straße – einfach ein Flanieren in genau gesuchten Worten. Die Illustrationen dazu sind in Schwarz-Weiß gehalten, im Anhang gibt es Tipps zum Hängen-, Sitzen- und Stehenbleiben.
Gegenbewegung. In die andere Richtung, zurück ins „Damals“ bewegen sich Thomas Hofmann und Beppo Beyerl in ihrem Buch „Die Stadt von gestern“. Sie vermitteln darin eine „Entdeckungsreise durch das verschwundene Wien“, ergehen sich aber nicht in „nostalgischer Stimmung und obligatorischem Raunzer, dass früher alles besser war“. Thomas Hofmann ist Leiter von Bibliothek, Verlag und Archiv der Geologischen Bundesanstalt in Wien und Beppo Beyerl sieht sich als einen „Zentralmeidlinger“, der immer wieder Reportagen und Bücher über Wien, Südböhmen und Istrien schreibt. Die beiden wollen Einrichtungen, die aus dem Wiener Stadtbild und dadurch vielleicht auch aus unserem Bewusstsein verschwunden sind, noch einmal in Text und Bildern festhalten. Ihr „Gestern“ beginnt – so halten sie in einer Einstimmung fest – im 19. Jahrhundert und endet im „Vorgestern“. Das Stefan-Zweig-Zitat von der Zeit, die die Bilder gibt, steht als Titel über dem ersten Kapitel. Überhaupt: die Titel. Sie regen schon an, weil sie ein wenig von der damaligen Aufregung vermitteln: Vom langen Fall der Mauer, Gestörte Blicke – freie Plätze, Erloschene Erregungen usw. An eben dieser Stelle, an der von „Skandalen, die wir heute belächeln“ die Rede ist, also vom Loos-Haus am Michaelerplatz, fügen die Autoren passend den Essay von Adolf Loos „Mein erstes Haus“ ein. Das zweite Kapitel trägt den Titel „Monumente, die es nicht mehr gibt“, da geht es sowohl um die Rotunde im Prater, den Heinrichhof, das Ringtheater, aber auch die Wiener Synagogen. Im dritten Kapitel denkt man an „Vergangene Freuden“, damit sind sowohl die großen Bühnen, die schließen mussten, als auch das Schwimmen im Donaukanal, das „Schifoan“ auf der Hohen-Wand-Wiese und das Schispringen am Himmelhof gemeint.
In „Alles in Bewegung“ sind die alten Bahnhöfe, die Donaudampfschifffahrtsgesellschaft, die Zahnradbahn, das Flugfeld Aspern und der Einsturz der Reichsbrücke das Thema. Abschließend heißt es dann „Aus dem Alltag von gestern“: Das ist eine bunte Mischung aus verschwundenen Molkereien und Brauereien, da wird der Frage nachgegangen, wo denn die Tschechen geblieben sind und in „Rote Reminiszenzen“ werden doch noch ein paar verblichene Monumente von Kommunisten und Sozialisten entdeckt. Das Buch ist aufwändig mit Zeichnungen, Aquarellen und Fotos illustriert, die kolorierten Fotografien bringen – mag die auch von den Autoren nicht gewünscht sein – eine ganz eigenartige Nostalgie in die Texte hinein.
Zum Schluss: Literatur. „Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur“ ist als Begleitbuch zu einer Ausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek von Bernhard Fetz, Katharina Manojlovic und Kerstin Putz herausgegeben worden. Die HerausgeberInnen wollen über „Wortwege“ führen, in „entlegenes Terrain, dahin wo Unbekanntes lauert…“. Die großen Überschriften lauten Wienblicke, Peripherien, Gehen, Tatort Wien und Vergessenshauptstadt. Text- und Bildteile wechseln einander ab. Weil hier ja nicht alles angeführt werden kann, soll der dem Flanieren am meisten entsprechende Abschnitt, nämlich der vom „Gehen, Denken, Erzählen“ näher beleuchtet werden. Da ergeht sich – kann man das in diesem Zusammenhang auch so sagen – Bernhard Fetz vorerst einmal in eigenen Betrachtungen zum Thema Gehen, bevor er Texte von Thomas Bernhard, Peter Handke, Heimito von Doderer und auch von Bernhard-Epigonen einschlägig betrachtet. Der Unterschied im Gehen bei Handke und Bernhard? Bei Handke ist der Sehsinn entscheidend, bei Bernhard der Hörsinn. Und bei Doderer riecht es auch immer. Illustriert ist das Paperback mit Abbildungen von Ausstellungsstücken, Texten, Fotocollagen und Zeitungsausschnitten.
Gabriele Hasmann/Charlotte Schwarz: Geheime Pfade, Durchhäuser, Hinterhöfe und versteckte Gassln in Wien. Falter Verlag, Wien 2019.
Norbert Philipp: Die Adern Wiens. Den Wiener Straßen auf der Spur. Braumüller Verlag, Wien 2019.
Thomas Hofmann/Beppo Beyerl: Die Stadt von gestern. Entdeckungsreise durch das verschwundene Wien. Styria Verlag, Wien-Graz 2018.
Bernhard Fetz/Katharina Manojlovic/Kerstin Putz: Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur. Begleitbuch zur Ausstellung im Literaturmuseum der ÖNB (12.4.2019-16.2.2020). Folio Verlag, Wien-Bozen 2019.
2.11.2019