MADAME TUSSAUD: EINE SELFMADE-KARRIEREFRAU

Ausschnitt aus dem Cover von „Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud“
Ausschnitt aus dem Cover von „Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud“

Madame Tussauds Wachsfigurenmuseum ist weltbekannt – aber wer war Madame Tussaud? Eine Antwort darauf gibt der britische Schriftsteller Edward Carey mit seinem Buch „Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud“. Careys lesenswertes Werk ist keine Biografie, sondern ein historischer Roman, der zwar im Großen und Ganzen auf tatsächlichen Geschehnissen und zeitgenössischen Berichten basiert, in dem aber so manches literarisch um- und überformt ist. Daher zunächst die wesentlichen Fakten zum Leben dieser Selfmade-Karrierefrau.

John Theodore Tussaud: Porträt Madame Tussauds im Alter von 42 Jahren
John Theodore Tussaud: Porträt Madame Tussauds im Alter von 42 Jahren

Geboren wurde Madame Tussaud als Marie Grosholtz 1761 in Straßburg, eine Halbwaise, deren Vater zwei Monate vor ihrer Geburt als Soldat während des Siebenjährigen Krieges gefallen war. Um sich und das kleine Mädchen finanziell durchzubringen, musste die Mutter eine Stelle als Haushälterin annehmen – und fand dabei, wie sich später herausstellen sollte, den für die Zukunft ihrer Tochter richtungsweisenden Arbeitsplatz. Denn gemeinsam mit Marie übersiedelte sie nach Bern, ins Haus des Anatomen Philipp Curtius. Dieser hatte sich auf die Herstellung von Wachsmodellen menschlicher Organe spezialisiert, die als Anschauungsmaterialien für Medizinstudenten verwendet wurden. Wesentlich einträglicher als diese Objekte aber waren jene Wachsköpfe, die Curtius nach lebenden Modellen anfertigte – und ein besserer Absatzmarkt als Bern war dafür Paris, wohin Curtius 1765 übersiedelte und später auch Marie und ihre Mutter nachkommen ließ.

In Paris richtete Curtius eine Modellierwerkstatt ein, die bald sehr erfolgreich war. Denn wer auf sich hielt, ließ sich ein Porträt in Form eines Wachskopfes anfertigen. Marie wurde Curtius‘ Assistentin und von ihm in der Technik des Wachsmodellierens unterrichtet. Er zeigte ihr, wie von den Köpfen der Kundinnen und Kunden zunächst ein Gipsabdruck gemacht wurde (vor dem Ersticken bewahrten in die Nasenlöcher gesteckte Strohhalme), wie der Abdruck mit Wachs auszugießen sei, wie das Wachs einzufärben sei und wie die Wachsköpfe bemalt, mit Glasaugen und mit Haaren versehen wurden. Als 17-jährige schuf Marie ihr erstes eigenständiges Wachsporträt: den Kopf des Philosophen Voltaire. Es folgten die wächsernen Ebenbilder zahlreicher weiterer bekannter Persönlichkeiten, wie etwa Jean-Jacques Rousseau und Benjamin Franklin.

Als 1789 die Französische Revolution ausbrach, gerieten Curtius und Marie aufgrund ihrer adeligen Kundschaft in den gefährlichen Verdacht, Anhänger der Royalisten zu sein. Um einer drohenden Hinrichtung zu entgehen, musste Marie Totenmasken und Wachsköpfe von soeben Hingerichteten anzufertigen – darunter vermutlich auch von König Ludwig 16. und Königin Marie Antoinette sowie von Revolutionären wie Georges Danton und Maximilien de Robespierre.

Jean-Baptiste Lesueur: Première scène de la Révolution Française à Paris. Am 12. Juli 1789, zwei Tage vor dem Sturm auf die Bastille, demonstrierten die Pariser ihre Verbundenheit mit dem Finanzminister Jacques Necker und dem Herzog von Orleans, die beide als Gegner des Absolutismus galten, indem sie ihre Büsten durch die Straßen trugen. Bei den Büsten handelte es sich vermutlich um Wachsköpfe, die von Philipp Curtius und Marie Grosholtz hergestellt worden waren.
Jean-Baptiste Lesueur: Première scène de la Révolution Française à Paris.
Am 12. Juli 1789, zwei Tage vor dem Sturm auf die Bastille, demonstrierten die Pariser ihre Verbundenheit mit dem Finanzminister Jacques Necker und dem Herzog von Orleans, die beide als Gegner des Absolutismus galten, indem sie deren Büsten durch die Straßen trugen. Dabei handelte es sich vermutlich um Wachsköpfe, die von Philipp Curtius und Marie Grosholtz hergestellt worden waren.

Als Philipp Curtius 1794 starb, erbte Marie seine Wachsfigurensammlung. Ein Jahr später heiratete sie François Tussaud, einen Ingenieur, mit dem sie zwei Söhne hatte, von dem sie sich jedoch 1800 wieder trennte. Der Grund dafür soll Tussauds Trunksucht gewesen sein, die Maries Wachsfigurengeschäft, das ohnehin längst nicht mehr so gut lief wie vor der Revolution, an den Rand des Konkurses gebracht hatte. 1802 nahm Marie Tussaud eine Einladung an, ihre Wachsfiguren im Rahmen einer Show des damals berühmten Illusionisten Paul Philidor (der mithilfe einer Laterna magica bewegte Phantasmagorien auf eine Theaterleinwand projizierte) in London zu zeigen. Zwar brachte ihr dies nicht den erhofften Erfolg, Madame Tussaud aber kehrte nicht mehr nach Frankreich zurück, sondern tourte mehr als dreißig Jahre lang mit ihren Wachsfiguren quer durch England, Schottland und Irland. Die Präsentationen ihrer Sammlung wurden zu überaus populären und vor allem auch gewinnbringenden Attraktionen, sodass Madame Tussaud 1835 in der Londoner Baker Street ihr eigenes Museum eröffnen konnte. Nach ihrem Tod, 1850, wurde dieses von ihren Söhnen weitergeführt. 1884 wurde das Museum in die Marylebone Road verlegt, wo es sich auch heute noch befindet.

In Edward Careys Roman erzählt die Hauptfigur selbst ihre Lebensgeschichte. Diese Ich-Perspektive macht nicht nur die Darstellung sehr lebendig, sondern erlaubt es Carey auch, so manche historisch umstrittene Details in die Erzählung aufzunehmen. Denn Madame Tussaud, die viel von Eigenwerbung verstand, hatte 1838 den Schriftsteller Francis Hervé beauftragt, ihre Memoiren zu schreiben und diktierte ihm dabei einiges in die Feder, das so gewesen sein mag – oder auch nicht. So etwa, dass sie Élisabeth de Bourbon, die Schwester von König Ludwig 16., im Zeichnen und Modellieren unterrichtet hatte (was stimmen könnte) und dass sie deshalb einige Zeit im Schloss von Versailles lebte und auch Kontakt zum König hatte (was nirgendwo nachweisbar ist).

„She knew what would make a great story“, meinte Edward Carey dazu in einem Interview (BBC, History Extra Podcast, 13.6.2019) – und auch er hat es verstanden, daraus eine „great story“ zu machen. So gehört es zu den Schlüsselszenen des Romans, wie Marie Élisabeth die menschliche Anatomie erklären will – und es zu einem Eklat kommt, weil die Prinzessin es nicht akzeptieren kann, dass ihr Körper ganz genauso wie der jedes anderen Menschen aufgebaut sei.

Eine besondere Qualität des Buches besteht darin, dass es Carey gelungen ist, die Stimmung im vorrevolutionären und revolutionären Paris in packender Weise nachvollziehbar zu machen. Sein Gewährsmann dabei war der Schriftsteller Louis-Sébastien Mercier (1740–1814), der mit seinem 1781 erschienenen Buch „Le tableau de Paris“ detaillierte Beschreibungen des großstädtischen Lebens lieferte: „He showed what it was to be a bloke on the street“, so Carey, der Mercier zu einem der zentralen Charaktere seines Romans machte.

Madame Tussaud war eine kleine, zarte Frau, und darauf verweist Carey mit dem Titel seines Buches. Dieser lautet im englischen Original lediglich „Little“ – denn so habe man, heißt es im Roman, die kleine Marie Grosholtz in ihren Jugendjahren in Paris genannt. Es war klug von Cornelius Hartz, dass er für seine – insgesamt sehr gelungene – Übersetzung die französische Entsprechung „Petite“ gewählt hat (und nicht etwa „Die Kleine“). Dass man aber jene Überschrift, mit der Carey sein Buch einleitet: „The Extraordinary Life and Historic Adventures of a Servant called Little“ in den Buchtitel übernahm und dann noch weiter ergänzte, mag vielleicht eine notwendige Verständnishilfe für die deutschsprachige Leserschaft sein – hat jedoch wenig mit der Prägnanz des Originals zu tun. Insgesamt aber ist „Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE (…)“ ein außergewöhnliches und sehr empfehlenswertes Buch.

Edward Carey: Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz. Verlag C.H. Beck, München 2022.
Das englischsprachige Original „Little“ ist 2018 bei Gallic Books, London, erschienen.

14.9.2019

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