Auf Schritt und Tritt wird man in dem kleinen Städtchen Cabourg in der Normandie an den vor 150 Jahren in Paris geborenen Schriftsteller Marcel Proust erinnert. Entspricht dessen literarisches Werk nicht gerade den gängigen Vorstellungen leichter Zugänglichkeit, so wird er doch im nordfranzösischen Badeort zu einem Popstar mit allen möglichen trivialen Begleiterscheinungen gemacht. Delikatessenläden, Modegeschäfte, Bars und Confiserien schmücken sich mit dem Namen des feinsinnigen Autors.
Zentrum der Proust-Verehrung ist das Grand Hotel. In dem 1907 eröffneten Prachtbau war der Schriftsteller immer wieder für längere Zeit zu Gast, und hier arbeitete er auch an seinem siebenbändigen Opus magnum „À la recherche du temps perdu“ – „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Im obersten Stockwerk des Hotels, in Zimmer 414, soll er gewohnt haben. Ob es wirklich genau dieser Raum war, ist umstritten – auf jeden Fall aber ist das „Proust-Zimmer“, das ganz im Stil der Belle Époque erhalten blieb, als besonderer Anziehungspunkt für alle Proust-Fans meist über Wochen ausgebucht. Das Hotelrestaurant trägt den Namen „Le Balbec“ – in Anlehnung an das Cabourg-Pseudonym „Balbec“ in Prousts Roman.
In Prousts „À la recherche du temps perdu“ erinnert sich der Erzähler immer wieder an die sorglose Zeit, die er in Balbec – Cabourg verbracht hat, und an das Grand Hotel: „Unter den Zimmern, deren Bild ich am häufigsten in schlaflosen Nächten heraufbeschwor, glich keines weniger den von einer gehaltvollen, blumenstaubgeschwängerten, nahrhaften, frommen Atmosphäre überlagerten von Combray als das im Grandhotel de la Plage zu Balbec, dessen weißlackierte Wände ähnlich den glatten Seitenflächen eines Schwimmbeckens, in dem das Wasser bläulich scheint, eine reine, azurne Salzluft umschlossen.“
Cabourg, das ursprünglich ein kleines Fischerdorf gewesen war, ist in der heutigen Form eine „Erfindung“ des 19. Jahrhunderts. 1853 erkannte der Pariser Anwalt Henri Durand-Morimbau das landschaftliche Potential der schier endlosen Sandstrände und gründete eine Gesellschaft, um Grundstücke aufzukaufen und ein nobles Seebad zu entwickeln. Der junge Architekt Paul Leroux entwarf den Masterplan für die neue Ansiedlung, in der die radial angelegten Straßenzüge auf das neue Zentrum mit Spielcasino und Grand Hotel zusteuern. Rathaus und Kirche sind bei diesem Konzept einer Ferien- und Vergnügungsstadt nebensächlich geworden. Glücksspiel und Luxus beherrschten somit die Ferien-Welt der wohlhabenden Pariser Bourgeoisie, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der neugebauten Eisenbahn die Küste der Normandie relativ leicht erreichen konnte. Die ebenfalls in das Schienennetz integrierten Orte in Cabourgs Nachbarschaft, wie Houlgate, Deauville oder Trouville-sur-Mer, erlebten damals einen ähnlichen touristischen Aufschwung. Findige Touristiker fanden dann noch für den nicht gerade wetterbegünstigten Landstrich den euphemistischen Namen „Côte Fleurie“, ein Markenname, der den Erfolg dieser Region bis heute begleitet.
Teile aus Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sind online über das Projekt Gutenberg verfügbar.
6.7.2021