Im Mai 1789 brach der damals 22jährige russische Gutsbesitzerssohn Nikolai Karamsin von Moskau aus zu einer Reise auf, die ihn im Verlauf der folgenden sechzehn Monate quer durch Deutschland, in die Schweiz, nach Frankreich und nach England führte. Es war eine Art Bildungsreise: Karamsin, der eine Laufbahn als Schriftsteller anstrebte und auch schon einige Gedichte und Erzählungen in Zeitschriften veröffentlicht hatte, wollte die kulturellen Zentren Europas kennenlernen und Kontakte zu den intellektuellen, der Aufklärung verpflichteten Kreisen knüpfen.
Von seiner Reise schickte Nikolai Karamsin zahlreiche Briefe an Freunde in Moskau. Darin erzählte er ausführlich von seinen Begegnungen mit Künstlern, Philosophen und Wissenschaftlern, er ging auf regionale Besonderheiten, auf Moden und Traditionen ein, berichtete über Theateraufführungen und Konzerte, lieferte genaue Beschreibungen von Landschaften und Städten und informierte – vor allem in Zusammenhang mit der Revolution in Frankreich – über aktuelle Geschehnisse. Nach seiner Rückkehr nach Russland edierte Karamsin seine Reisebriefe in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Moskauer Journal“ und war damit überaus erfolgreich. Schon bald erschienen die „Письма русского путешественника“ („Briefe eines russischen Reisenden“) in Buchform. 1800–1802 kam, in sechs Bänden und von Karamsin selbst autorisiert, die erste und bis heute allen weiteren Editionen zugrundeliegende deutschsprachige Ausgabe heraus. Übersetzt von Johann Richter trägt sie den Titel „Briefe eines reisenden Russen“.
Die Reisebriefe begründeten Nikolai Karamsins schriftstellerischen Ruhm. Als Vorbild für Alexander Puschkin und bewundert auch von späteren Autoren wie etwa Vladimir Nabokov, gilt er als wesentlicher Impulsgeber für die russische Literatursprache. Vor allem aber sind die „Briefe eines reisenden Russen“ bis heute und auch außerhalb Russlands als zeit- und kulturgeschichtliche Dokumente höchst interessant. Karamsin war nicht nur ein aufmerksamer Beobachter, sondern auch sehr sprachgewandt. Er beherrschte unter anderem das Französische und das Englische – und vor allem auch das Deutsche, aus dem er schon vor der Reise literarische Übersetzungen gemacht und publiziert hatte. Es gab daher kaum Verständigungsschwierigkeiten, als er sich etwa gleich nach seiner Ankunft in Königsberg, am 18. Juni 1789, zu Immanuel Kant begab. Zwar war sein Besuch spontan und nicht angekündigt, aber, so berichtete er,
„Kühnheit gewinnt Städte und mir öffnete sie die Türe des Philosophen. Ein kleiner hagerer Greis, von einer außerordentlichen Zartheit und Weiße, empfing mich. Ich sagte zu ihm: Ich bin ein russischer Edelmann, der deswegen reiset, um mit einigen berühmten Gelehrten bekannt zu werden – und darum komm‘ ich zu Kant. Er nötigte mich sogleich zum Sitzen und sagte: ‚Meine Schriften können nicht jedermann gefallen. Nur wenige lieben die tiefen metaphysischen Untersuchungen, mit welchen ich mich beschäftigt habe.‘ Wir sprachen erst eine halbe Stunde über verschiedene Gegenstände: von Reisen, von China, von Entdeckungen neuer Länder etc. Ich musste dabei über seine geographischen und historischen Kenntnisse erstaunen, die allein hinreichend schienen, das ganze Magazin eines menschlichen Gedächtnisses zu füllen, und doch ist dies bei ihm nur Nebensache. (…) Er schrieb mir die Titel von zweien seiner Schriften auf, die ich noch nicht gelesen habe: ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ und ‚Metaphysik der Sitten‘ – und dieses Zettelchen werd‘ ich verwahren, wie ein heiliges Andenken. (…) Kant spricht geschwind, leise und unverständlich; ich musste alle meine Gehörnerven anstrengen, um zu verstehen, was er sagte. Er bewohnt ein kleines unansehnliches Haus. Überhaupt ist alles bei ihm alltäglich, ausgenommen seine Metaphysik.“
Von Königsberg führte Nikolai Karamsins Reise über Danzig, Berlin (wo er den Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai traf und mit großer Begeisterung das Schauspielhaus besuchte) und Dresden nach Leipzig, wo es ihm, wie er am 16. Juli 1789 seinen Moskauer Freunden berichtete, besonders gut gefiel:
„Man sagt, dass der Aufenthalt in Leipzig sehr angenehm ist und ich glaube es. Einige der hiesigen reichen Kaufleute geben oft Diners, Soupers, Bälle usw. Die jungen Stutzer aus der Zahl der Studenten erscheinen bei solchen Gelegenheiten in ihrem Glanze. Man spielt Karten, man tanzt, man macht Cour, wie überall bei diesen Festen. Außerdem gibt es noch besondere gelehrte Gesellschaften oder Klubs; da unterhält man sich von gelehrten und politischen Neuigkeiten, beurteilt Bücher usw. (…) Wer seinem Gaumen etwas zu gute tun will, hat hier die außerordentlich schmackhaften Lerchen, die köstlichen Kuchen, den herrlichsten Spargel und eine Menge Früchte, vorzüglich Kirschen, die sehr gut und jetzt so wohlfeil sind, dass man für zehn Kopeken eine ganze Schüssel voll bekommt. Überhaupt ist es in Sachsen wohlfeil zu leben.“
Am meisten beeindruckt war Nikolai Karamsin in Leipzig aber von den vielen Buchhandlungen:
„Fast auf jeder Straße findet man mehrere Buchladen und doch werden die meisten Leipziger Buchhändler reich, worüber ich mich wundere. Zwar sind viele Gelehrte hier, die Bücher brauchen; aber dies sind größtenteils Schriftsteller oder Übersetzer, die den Buchhändler, wenn sie sich eine Bibliothek anschaffen, nicht mit Gelde, sondern mit Manuskripten bezahlen. Überdies gibt es in jeder deutschen Stadt von einiger Bedeutung öffentliche Lesebibliotheken, aus welchen man für geringes Geld Bücher aller Arten zum Lesen erhalten kann. – Aus ganz Deutschland versammeln sich hier die Buchhändler auf den Messen, deren jährlich drei gehalten werden, nämlich zum Neujahr, zu Ostern und zu Michaelis, um ihre Verlagsartikel gegeneinander zu vertauschen. Für ehrlos werden diejenigen unter ihnen gehalten, die fremden Verlag nachdrucken und dadurch den rechtmäßigen Verlegern, die das Manuskript von dem Verfasser kauften, Schaden verursachen. Deutschland, wo der Buchhandel so wichtig ist, bedarf über diesen Punkt besondere und strenge Gesetze.“
Nach fünftägigem Aufenthalt in Leipzig setzte Nikolai Karamsin seine Reise fort. Er war per Postkutsche unterwegs – „und da ich dem Postillion ein Geschenk mit einem porzellanenen Pfeifenkopf machte, den ich in einer berlinischen Fabrik gekauft hatte, so brachte er mich aus Dankbarkeit ziemlich schnell nach Weimar.“
Karamsins Hoffnung, in Weimar Johann Wolfgang von Goethe treffen zu können, erfüllte sich allerdings nicht. Der Dichter sei nicht zuhause, sondern „bei Hofe“ hieß es auf eine erste Nachfrage, und als ihn Karamsin dann doch einmal „im Vorbeigehen am Fenster“ sah und am nächsten Tag besuchen wollte, war Goethe just „ganz früh nach Jena gefahren“. Doch Karamsin wusste sich zu trösten: „In Weimar leben auch noch andere berühmte Schriftsteller“ – so etwa Johann Gottfried Herder, der gerne zu einem Gespräch bereit war und den Karamsin als „liebenswürdigen, höflichen Mann“ von „sanfter Freundlichkeit“ erlebte; oder Christoph Martin Wieland, der sich zunächst dem russischen Gast gegenüber sehr reserviert gab.
„Wieland: Ich bin kein Freund von neuen Bekanntschaften und am wenigsten von Bekanntschaften mit Leuten, die mir durchaus unbekannt sind. Ich kenne Sie nicht. – Ich: Das gestehe ich; aber was fürchten Sie von mir? – Wieland: Es ist jetzt in Deutschland Mode geworden, zu reisen und dann seine Reise zu beschreiben. Dergleichen Reisebeschreiber, deren Anzahl nicht gering ist, ziehen von Stadt zu Stadt und suchen mit berühmten Leuten nur deswegen zu sprechen, um das, was sie von ihnen hören, drucken zu lassen. Was unter vier Augen gesprochen wurde, wird dann vor dem Publikum ausposaunt und dadurch haben schon manche gelitten. Ich bin meiner nicht ganz gewiß; bisweilen bin ich gar zu offen.“
Schließlich willigte Wieland doch in ein zweites Treffen ein, das dann sehr freundschaftlich mit einem ausführlichen Gespräch über Philosophie und Literatur verlief.
Von Weimar reiste Nikolai Karamsin weiter nach Frankfurt und über Mainz, Mannheim und Straßburg in die Schweiz. In einem Brief aus Straßburg schrieb er:
„Wie angenehm und erfreulich ist es, meine Freunde, aus einem Lande ins andere zu reisen, neue Gegenstände zu sehen, durch welche unser Geist sozusagen ein neues Leben bekommt (…). Mit einem Worte, meine Freunde, das Reisen nährt Geist und Herz. Der Hypochondrist reise, um seine Hypochondrie zu vergessen! Der Misanthrop reise, um die Menschen liebzugewinnen! Es reise alles, was reisen kann!“
Die 1922 im Wiener Rikola Verlag erschienene Ausgabe von Nikolai Karamsins „Briefe eines reisenden Russen“ ist online über Internet Archive verfügbar.
In Buchform sind die Briefe derzeit nur als „Book on demand“ erhältlich (wobei es sich um Reprints der Rikola-Ausgabe handelt).
23.2.2018