„Hans Andersen slept in this room for five weeks – which seemed to the family AGES!” – Diese Notiz habe ihr Vater im Gästezimmer angebracht, nachdem Hans Christian Andersen nach fünf Wochen, die der Familie wie eine Ewigkeit vorkamen, abgereist war. So erinnerte sich Charles Dickensʼ Tochter Kate an den dänischen Dichter, den sie als einen „knochigen Langweiler“ erlebt hatte und dessen Besuch in Dickensʼ östlich von London gelegenem Landsitz Gad’s Hill Place1 im Sommer 1857 viel zu lange gedauert habe: „He was a bony bore, and stayed on and on“, so Kate.2

Dabei hatte die Bekanntschaft zwischen den beiden Schriftstellern zehn Jahre zuvor, 1847, bei Andersens erstem Aufenthalt in England, durchaus herzlich und harmonisch begonnen. Erstmals getroffen hatten einander der damals 42-jährige, international erfolgreiche und auch in London entsprechend gefeierte Andersen und der sieben Jahre jüngere und ebenso berühmte Dickens bei einem Diner im Haus der Schriftstellerin und Salonnière Lady Blessington: „Wir drückten einander die Hände, sahen einander tief in die Augen, sprachen und verstanden einander“, notierte Andersen in seinem Tagebuch und vermerkte dazu auch, dass er während des Gesprächs mit dem von ihm sehr verehrten Schriftsteller zu Tränen gerührt gewesen war.3
Am Tag vor seiner Abreise aus England war Andersen zu einem Abendessen bei Dickens und dessen Familie eingeladen. Dickens, der „die Liebenswürdigkeit selbst“ war, versprach, dass er Andersen regelmäßig schreiben und dafür Deutsch und später vielleicht auch Dänisch lernen werde. Am nächsten Tag kam er dann von seinem damaligen Landhaus in Broadstairs4 in das rund fünf Kilometer entfernte Ramsgate, um von Andersen, der per Schiff nach Ostende reiste, Abschied zu nehmen. Er war, wie Andersen ins Tagebuch schrieb, zu Fuß gekommen, „bekleidet mit einem grünen Kilt und einem bunten Hemd, sehr fein englisch“: „Als das Schiff den Hafen verließ, sah ich Dickens auf der äußersten Landspitze stehen, ich hatte gedacht, dass er schon längst fort sei, er schwenkte den Hut und hob zuletzt eine Hand Richtung Himmel, als ob das bedeute: erst dort oben sehen wir einander wieder“.5

Das Wiedersehen fand dann doch auf Erden statt, zehn Jahre später, nach etlichen Briefen und wiederholten Einladungen von Dickens an Andersen, etwas mehr Zeit gemeinsam zu verbringen. Allerdings schien Dickens nicht damit gerechnet zu haben, dass Andersen fünf lange Wochen bleiben werde. Andersen „will come for a fortnight’s stay in England“, schrieb er an einen Bekannten, den er ebenfalls in seinen neuerworbenen Landsitz Gad’s Hill Place einlud.6 Vor allem aber hatte er vermutlich nicht bedacht, dass die schrullige, kindliche und oft pathetische Art Andersens, die bei kürzeren Begegnungen durchaus liebenswert wirkte, bei einem längerem Beisammensein enervierend sein konnte.

Charles Dickensʼ Sohn Henry, der bei Andersens Besuch im Jahr 1857 acht Jahre alt war, beschrieb in seinen Erinnerungen den Märchendichter als eine „lovable and yet a somewhat uncommon and strange personality“. Vor allem habe Andersen ständig Dinge getan, die man, so Henry Dickens, als „tölpelhaft“ bezeichnen könnte. Während dies für die Kinder immer wieder Anlass zu Gelächter hinter dem Rücken des Dichters gab, führte es bei Erwachsenen oftmals zu peinlichen Situationen. So etwa bei einem festlichen Diner in Gad’s Hill Place, als der Gastgeber Dickens eine Dame zu Tisch geleiten wollte, Andersen diese aber wegdrängte, Dickensʼ Hand ergriff und sie fest an seine Brust drückte, um den Gastgeber dann „triumphierend“ ins Esszimmer zu führen.7
Als der Schriftsteller Wilkie Collins zu Besuch kam, der einen großen, breitrandigen Hut hatte, drapierte Andersen darauf, ohne dass Collins es merkte, eine Girlande aus Gänseblümchen. Dies wurde – so erinnerte sich Henry Dickens – von den Kindern für einen Streich genutzt: Sie luden Collins zu einem Spaziergang durch das Dorf ein, und es dauerte einige Zeit, bis dem Autor klar wurde, warum seine Erscheinung allseits für große Heiterkeit sorgte.8

Wilkie Collins wusste sich zu revanchieren – und zwar in literarischer Form und offenbar durchaus mit Unterstützung von Charles Dickens. Denn im August 1859 publizierte er in der von Dickens herausgegebenen Wochenzeitschrift „All the Year Round“ einen Text mit dem Titel „The Bachelor Bedroom“9. Es ist eine Satire, in der vier verschiedene Typen von Junggesellen beschrieben werden. Einer von ihnen ist „Herr von Müffe“, ein bekannter deutscher Dichter, der im Landsitz „Coolcup House“ von „Sir John Giles“ zu Gast ist. Dass dies eine Anspielung auf Andersens Besuch in Dickensʼ Gad’s Hill Place ist, wird schnell klar, vor allem, da sich viele der erzählten Details auch in Briefen und Aufzeichnungen von Dickens und dessen Familie finden. „Herr von Müffe“ wird in Collins Text als ein freundlicher und überaus naiver Mensch beschrieben, der „sehr geschickt kleine Figuren von Hirten und Hirtinnen aus Papier ausschnitt“ und der, „wenn er nicht gerade mit seinen Papierfiguren beschäftigt war, im Garten zahllose kleine Blumensträußchen sammelte und sie in sentimentaler Weise allseits verteilte.“10

„Herr von Müffe“ sei allerdings aufgrund seiner Schrulligkeit „liebenswert unerträglich“ – „amiably insupportable“ – gewesen. Außerdem zeichnete er sich durch etliche merkwürdige Angewohnheiten aus. So etwa pflegte er – „mit der souveränsten Verachtung für alle gesundheitlichen Bedenken“ – verschiedenste Arten von alkoholischen Getränken miteinander zu mischen: „Er trank Champagner mit Bier, süßesten Constantia [Dessertwein] mit dunkelstem Tawny Port, alles zusammen, mit dem Anschein äußersten Genusses“.11 Wenn er, dessen Englisch schwer verständlich war, dann im Laufe des Abends bei Gesprächen des Öfteren in Tränen ausbrach, „dachten die Damen, dass seine Themen sentimentaler Natur seien, während sich die Männer einig waren, dass der distinguierte Gast betrunken sei.“12
Der Grund für viele Missverständnisse seien, so ätzte Charles Dickens wiederholt in Briefen an Bekannte, Andersens mangelnde Sprachkenntnisse: „He speaks no language but his own Danish, and is suspected of not even knowing that.“13 Auch wenn er damit natürlich grob übertrieb, so war Andersens „unintelligible vocabulary“ sicher einer der Gründe dafür, dass das Verhältnis zwischen ihm und Dickensʼ Familie distanziert blieb. Und vielleicht waren die geringen Englischkenntnisse – verbunden mit einer allzu rosigen Sicht auf seine Umwelt – auch schuld daran, dass Andersen nicht realisierte, dass die Stimmung in Gad’s Hill Place eher bedrückt war. Das Ehe- und Familienleben im Hause Dickens war bei Weitem nicht so harmonisch, wie der Märchendichter glaubte (und wie er es 1860 in seiner Reiseskizze „Ein Besuch bei Charles Dickens“ darstellte, als längst bekannt war, dass sich Dickens und seine Frau voneinander getrennt hatten).

Vielleicht hatte Wilkie Collins recht, der meinte, dass „Herr von Müffe“ – also Andersen – „ein Mensch war, der von Natur aus nicht in der Lage war, sich auf neue Umstände einzustellen“14. Hätte er erkannt, wie angespannt die Situation war, dann hätte er Charles Dickensʼ – vermutlich aus Höflichkeit ausgesprochene – Einladung, nach Belieben auch länger zu bleiben als die geplanten zwei Wochen, vielleicht nicht angenommen. So aber – um noch einmal Wilkie Collins zu zitieren – „strapazierte dieser unglückliche ausländische Junggeselle trotz der besten Absichten der Welt die Geduld aller im Haus; und zu unserer Schande sei gesagt, dass wir seinen Abschied feierten, als er uns schließlich verließ.“15
Am 15. Juli 1857 nahm Hans Christian Andersen Abschied von Gad’s Hill Place, um in Folkstone das Schiff nach Boulogne zu nehmen und dann nach Paris weiterzureisen. Von dort schrieb er an Dickens: „Mein Besuch in England, mein Aufenthalt bei Ihnen, ist ein Höhepunkt in meinem Leben; deshalb bin ich so lange geblieben; deshalb ist mir der Abschied so schwer gefallen. […] Mir ist klar, dass es für den ganzen Kreis nicht ganz einfach gewesen sein kann, wochenlang einen Menschen in seiner Mitte zu haben, der so schlecht Englisch spricht wie ich, einen, der wie aus den Wolken gefallen zu sein scheint“16.
Charles Dickens antwortete mit einem freundlichen, aber unverbindlichen Schreiben, reagierte jedoch nicht mehr auf alle weiteren Briefe, die ihm Andersen schickte. Am 11. Juni 1870 notierte Andersen in sein Tagebuch: „Am 7. abends ist Charles Dickens gestorben, lese ich heute Abend in der Zeitung; also sehen wir einander nicht mehr auf dieser Welt, sprechen uns nicht miteinander aus, ich bekomme keine Erklärung von ihm, warum er meine späteren Briefe nicht beantwortet hat.“17

- Website von Gad’s Hill Place ↩︎
- Gladys Storey: Dickens and Daughter. New York 1971, S. 21f. ↩︎
- H.C. Andersens dagbøger 1825-1875. Udgivet af Det Danske Sprog- og Litteraturselskab. Kopenhagen 1974, Bd 3, S. 230. ↩︎
- Website des „Dickens House Museum“ in Broadstairs ↩︎
- H.C. Andersens dagbøger 1825-1875. S. 264ff. ↩︎
- Charles Dickens, Brief an Reverend James White, 22.5.1857. In: The Letters of Charles Dickens. Edited by his sister-in-law and his eldest daughter. In two volumes. New York 1879, Vol. II, S. 18. ↩︎
- Henry F. Dickens: The Recollections of Sir Henry Dickens, K.C. London 1934, S. 34f. ↩︎
- Henry F. Dickens: Recollections, S. 35. ↩︎
- „The Bachelor Bedroom” wurde von Collins 1863 auch in die zweibändige, in der Folge mehrmals neu aufgelegte Sammlung von Essays und Kurzgeschichten „My Miscellanies“ aufgenommen. ↩︎
- Collins: The Bachelor Bedroom, My Miscellanies, London 1863, Bd 2, S. 53. ↩︎
- Collins: The Bachelor Bedroom, S. 48. ↩︎
- Collins: The Bachelor Bedroom, S. 48. ↩︎
- Edgar Johnson (Hg.): The heart of Charles Dickens as revealed in his letters to Angela Burdett-Coutts. New York 1952, S. 340f. ↩︎
- Collins: The Bachelor Bedroom, S. 53. ↩︎
- Collins: The Bachelor Bedroom, S. 54. ↩︎
- Elias Bredsdorff: Hans Christian Andersen. The story of his life and work. 1805-75. New York 1975. ↩︎
- H. C. Andersens sidste leveaar. Hans dagboger 1868-75. Hg. von Jonas Collin. Kopenhagen 1906, S. 59 ↩︎
Alle Übersetzungen: Barbara Denscher
Diesen Artikel zitieren:
Barbara Denscher, Hans Christian Andersen zu Gast bei Charles Dickens. In: Flaneurin, 26.4.2025, https://www.flaneurin.at/andersen-bei-dickens/
26.4.2025