Es ist eine der am häufigsten reproduzierten Fotografien der Geschichte: Jene Aufnahme der Erde, die am 7. Dezember 1972 während des „Apollo 17“-Fluges zum Mond gemacht wurde. Aus einer Entfernung von rund 29.400 Kilometer könnte man die Erde für eine kleine, blaue Murmel inmitten der dunklen Weiten des Universums halten. Deshalb erhielt das Foto den Namen „The Blue Marble“.
Allerdings unterscheidet das Bild, so wie man es weltweit kennt und wie es zu einem Symbol für die Fragilität und Verletzlichkeit des „blauen Planeten“ wurde, in einem wesentlichen Punkt vom Original. Denn bei jener Aufnahme, die einer der drei Astronauten (welcher es war, Eugene A. Cernan, Ronald E. Evans oder Harrison H. Schmitt, konnte nie eindeutig geklärt werden) aus seiner damaligen Perspektive auf den Film einer Hasselblad-Kamera bannte, ist der Südpol oben im Bild zu sehen, Afrika in der Mitte und die Arabische Halbinsel im unteren Bildbereich.
Die Erde schien „auf den Kopf gestellt“ zu sein, weshalb die NASA das Foto für die Veröffentlichung um 180 Grad drehte. Damit entsprach man den gängigen Vorstellungen, dass sich der Nordpol „oben“ und der Südpol „unten“ zu befinden habe.
Doch das „muss“ nicht so sein, meint der britische Historiker Jerry Brotton. Er stellt die Geschichte rund um die Entstehung des „Blue Marble“-Fotos an den Anfang seines Buches „Four Points of the Compass“. Thema des lesenswerten Bandes sind die Himmelsrichtungen. Dabei geht es Brotton nicht nur um deren Funktion als geografische Orientierungspunkte, sondern vor allem auch um historische, kulturelle und politische Aspekte. Und gleich zu Beginn stellt er klar, dass sich der Norden zwar heutzutage in unserer „mentalen und grafischen Geografie“ obenauf befinde, dass dies aber nicht immer so war. Im Lauf der Geschichte und in unterschiedlichen Kulturen hatten auch der Süden oder der Osten diese Topposition inne.
In seinem Buch widmet Jerry Brotton jeder der vier Himmelsrichtungen einen eigenen Abschnitt und beginnt dabei mit dem Osten. Dieser hatte, so Brotton, für die Menschen seit frühester Zeit eine besondere und meist auch kultische Bedeutung. Da im Osten die – oftmals als göttlich verehrte – Sonne aufgeht, wurde diese Himmelsrichtung seit jeher mit Licht, Leben, Geburt und Beginn assoziiert. So etwa befindet sich der Garten Eden gemäß dem Alten Testament im Osten (Genesis 2:8). Dieser gilt als symbolische Richtung von Schöpfung und Auferstehung, und lange Zeit war es im Christentum üblich, Kirchen nach Osten auszurichten und in Richtung Osten zu beten. Mittelalterliche, im christlichen Umfeld entstandene Karten zeigen daher oft den Osten am oberen und den Westen am unteren Kartenrand.
Der Norden ist jene Himmelsrichtung, die in vielen Kulturen die stärksten negativen Zuschreibungen erhielt. Er galt als eine dunkle, kalte Eiswüste, ein trostloser Ort der Verbannung und des Todes. Dass er dennoch heutzutage in der kartografischen Darstellung der Welt die Topposition innehat, hängt, so Jerry Brotton, vor allem mit der ab der frühen Neuzeit zunehmenden Bedeutung der europäischen Seefahrt zusammen. Handelsleute wie auch Kolonisatoren benötigten auf ihren Routen Karten, die es ermöglichten, einen konstanten Kurs zu halten. Die Grundlage dafür lieferte 1569 der flämische Geograph Gerhard Mercator mit seiner für die Seefahrt („ad usum navigantium“) bestimmten Weltkarte. Bei dem Problem, die Kugelgestalt der Erde auf das zweidimensionale Kartenformat zu projizieren, entschied sich Mercator für eine Zylinderprojektion. Er übertrug die Kugelform Punkt für Punkt auf einen Zylinder, wobei er vom Äquator ausging. Dadurch erreichte er eine winkeltreue Darstellung, was eine exakte Kompassnavigation ermöglicht.
Die Mercator-Projektion führt allerdings zu einer Verzerrung der Flächen: Je näher man zu den Polen kommt, desto größer erscheinen die Flächen im Vergleich zur Realität. Für die Schiffsnavigation war dies nicht von Bedeutung, da die Regionen in Äquatornähe und auch die wesentlichen Ost-West-Routen relativ proportional abgebildet sind. Dass der stark verzerrte Norden an die Spitze kam, spielte keine Rolle, denn, so Brotton, „in the sixteenth century at least, sailing there was almost impossible; it could therefore be projected to infinity without the need for it to be visited for any great length of time or colonized.” (S. 102)
Bis heute bestimmen die genordeten, auf der Mercator-Projektion basierenden Karten weitgehend die Vorstellung vom Aussehen der Erde, und sie werden auch weiterhin in vielen Bereichen genutzt, so etwa in populären Nachschlagewerken, in Schulbüchern und auch auf vielen digitalen Internet-Karten.
Der Norden in Topposition und die Verzerrung der Flächen aber führen zu einer unrealistischen Darstellung der Welt. Länder und Kontinente in höherer nördlicher Breite wirken – zu Unrecht – größer als solche in Äquatornähe, Europa scheint ganz prominent in der Mitte zu liegen. Es ist ein verzerrtes Bild, das zu einer vielfach verzerrten Wahrnehmung der Welt führen kann. Damit haben die Himmelsrichtungen, wie Jerry Brotton in seinem Buch an zahlreichen Beispielen zeigt, auch eine massiv politische Komponente. Brotton beschäftigt sich dabei mit stark politisch konnotierten, aber weit verbreiteten Bezeichnungen wie etwa dem „Nahen Osten“, dem „Globalen Süden“ oder der „westlichen Welt“. Wie und warum, so fragt er, sind diese etikettartigen Begriffe entstanden, was bedeuten sie für die Geopolitik? Wieso haben Richtungen wie „Osten“ und „Westen“ den Status von kulturellen Identitäten – oder vielmehr: Stereotypen – angenommen? Müssten doch die Orte auf dieser Erde, ob im Osten oder Westen, im Norden oder Süden, so betont Brotton, gerade in dieser krisenhaften Gegenwart „be respected in and for themselves and not for their geopolitical meanings“ (S. 156).
Der Autor: Jerry Brotton ist Historiker und Professor an der Queen Mary University of London. In deutscher Übersetzung liegt von ihm der Band „Die Geschichte der Welt in zwölf Karten“ (C. Bertelsmann Verlag, 2014) vor.
Jerry Brotton: Four Points of the Compass. The Unexpected History of Direction. London: Allen Lane, 2024.
18.1.2025