VOR 100 JAHREN: EIN BLICK IN DAS JAHR 2025

Er ließ sich in den Polizeiarrest sperren, kroch mit den Obdachlosen in die Kanäle Wiens, er besuchte Zinskasernen, stellte sich stundelang vor einer Wärmestube um ein Suppe an, fuhr einen Tag lang bei den Einsätzen der Rettungsgesellschaft mit und verbrachte einen Weihnachtstag im „Armenamt“. Über all diese Erlebnisse verfasste der Reporter der „Arbeiter-Zeitung“ Max Winter (1870–1937) aufrüttelnde Sozialreportagen.

Auch in Buchform hatten Winters Texte großen Erfolg. Eine seiner Publikationen allerdings sticht aus dem umfangreichen Werk heraus: Es ist Max Winters einziger Roman, erschienen 1929 in der Berliner „E. Laubschen Verlagsbuchhandlung“. Der Titel des Buches lautet „Die lebende Mumie“, und bei dieser „Mumie“ handelt es sich um einen Mann namens Richard Fröhlich, der in den 1920er Jahren nach einem Unfall in ein Koma verfällt, aus dem er im Jahr 2025 wieder erwacht. Was ihn da erwartet, ist die Verwirklichung einer – aus der Sicht der Zwischenkriegszeit – idealen sozialdemokratischen Welt. Auf den ersten Blick wirkt alles wunderbar und harmonisch: Es gibt keine Kriege, es herrschen perfekte Arbeitsbedingungen und die Pension kann bereits mit 45 Jahren angetreten werden. Es wird keine Kohle mehr verbrannt, sondern der Energiebedarf aus dem Sonnenlicht gespeist. Der Individualverkehr ist – wie auch häufig in ähnlichen Utopien – in die Luft verlegt. Verwendet dafür werden Flugzeuge, die helikopterartige Eigenschaften besitzen. Statt der „allgemeinen Wehrpflicht“ gibt es eine „allgemeine Hilfspflicht“, für die alle Menschen zwischen 18 und 25 Jahren für ein Jahr zum „Öffentlichen Dienst“ einberufen werden. Im Jahr 1950, so erfährt Richard Fröhlich, wurden die „Vereinigten Staaten von Europa“ gegründet. Alle Kinder müssen neben ihrer Erstsprache auch eine der sieben „Weltsprachen“, das sind Englisch, Spanisch, Russisch, Deutsch, Malaiisch und „Neuchinesisch“, lernen. Im Rahmen der Schulausbildung muss auch jedes Kind ein „Tauschjahr“ im Land seiner Zweitsprache verbringen.

Der Sozialismus hat in allen Lebensbereichen gesiegt, es herrscht Planwirtschaft und es gibt kein Privateigentum mehr. Die Landwirtschaft ist in großen, Kolchosen ähnlichen Betrieben organisiert, die Nahrungsversorgung erfolgt über Gemeinschaftsküchen. Das Geld ist generell abgeschafft, stattdessen gibt es – je nach Wohlverhalten – Scheckhefte, über deren Verwendung öffentlich Rechenschaft abgelegt werden muss.

Eine Vision des „neuen sozialdemokratischen Menschen“ in der Grafik, gestaltet um 1930 von Victor Th. Slama.
Eine Vision des „neuen sozialdemokratischen Menschen“ in der Grafik, gestaltet um 1930 von Victor Th. Slama.

Die Hauptfigur des Buches, Richard Fröhlich, die allmählich zu vollem Leben erwachende „lebende Mumie“, ist begeistert von der neuen Weltordnung. Die heutige Leserschaft allerdings wird bei der Lektüre des Romans über diese „schöne neue Welt“ wohl zunehmend skeptisch bis bestürzt sein. Die Ideen des Autors sind deutlich aus der Ideologie des Kulturkampfes der 1920er Jahre gespeist – und, was noch befremdlicher ist, geprägt auch aus den biologistischen Vorstellungen der Zeit. Alle Religionen sind abgeschafft, der Wiener Stephansdom wurde zu einer Veranstaltungshalle umfunktioniert, die mit „Viktor-Adler-Halle“ den Namen des Begründers der österreichischen Sozialdemokratie trägt. Wo es beängstigend wird, ist der Umstand, dass alle, die zum „idealen Menschen“ nicht taugen, nach Geschlechtern getrennt, in „öffentliche Anstalten“ gesperrt werden, mit dem vordringlichen Ziel, dass sich „solche unsoziale und gegensoziale Menschen“ nicht fortpflanzen dürfen, denn das Ziel der neuen Gesellschaft sei es, sich „planmäßig höher zu züchten“.

Max Winters Roman zeigt neben interessanten sozialutopischen Ideen somit auch, wie sehr sich die Begriffe von links und rechts als Verortung von ideologischen Positionen immer wieder relativieren können. Manche Ideen des gemeinhin als prononciert links gesehenen Autors erinnern fatal an repressive faschistische Tendenzen und zeigen damit auch, wie Teile der links geschulten Arbeiterschaft anfällig gegenüber rechten Ideologien sein konnten.

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