„EINE ANS GENIALE GRENZENDE ILLUSTRATORIN“

Tom Seidmann-Freud war eine Künstlerin, die neue Standards für die Gestaltung von Kinderbüchern setzte und in den 1910er und 1920er Jahren eine Reihe von vielbeachteten Werken dieses Genres schuf. Sie war von Jugendstil und Neuer Sachlichkeit ebenso geprägt wie von den Erkenntnissen der Psychoanalyse – und sie war die Nichte von Sigmund Freud.

Eigentlich hieß sie Martha Gertrude Freud und wurde am 17. November 1892 in Wien geboren. Ihre Mutter Marie war eine Schwester Sigmund Freuds, ihr Vater, der Kaufmann Moritz Freud, stammte aus der entfernteren Verwandtschaft der Familie des Psychoanalytikers. Als sie rund 15 Jahre alt war, änderte sie ihren Vornamen, wollte nur noch Tom genannt werden. Vielleicht, so meint ihre Biografin, die Psychotherapeutin und Kinderbuchforscherin Barbara Murken, hatte dies damit zu tun, dass Tom zwei ältere Schwestern hatte. Als drittes Kind hatten sich die Eltern einen Sohn erhofft und „ihre unbewußte oder sogar offenkundige Enttäuschung über die dritte Tochter“ habe sich auf deren Lebensgefühl übertragen. Dies habe auch Toms Cousine Anna Freud bestätigt, die sich in einem Brief an Murken erinnerte: Tom „hated to be female and therefore changed her name to a male one.“ [1]

Zwei der Illustrationen, die Tom Seidmann-Freud für das Buch „David the Dreamer“ des amerikanischen Autors Ralph Bergengren gestaltete. Der Band erschien 1922 bei „The Atlantic Monthly Press“ in Boston

Die künstlerische Karriere von Tom Freud begann in Berlin, wohin sie 1898 gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Schwestern übersiedelt war. Nach Abschluss der Schule und einem Aufenthalt in London, wo sie eine Kunstschule besuchte, studierte Tom ab 1911 an der Berliner „Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums“ (der Vorgängerinstitution der heutigen Kunstuniversität). Zu dieser Zeit erhielt sie auch erste öffentliche Anerkennung als Künstlerin. Es war dies in Zusammenhang mit den Auftritten ihrer um vier Jahre älteren Schwester Lilly, die sich damals gerade einen Namen als Rezitatorin und Schauspielerin machte. Besonders beliebt waren Lilly Freuds Lesungen für Kinder. Für diese Veranstaltungen schrieb Tom Freud die Texte und schuf passende Aquarelle, die über eine Laterna Magica auf eine Leinwand projiziert wurden. Die Programme kamen so gut an, dass sogar die Wiener „Neue Freie Presse“ meldete: „Man berichtet uns aus Berlin: Fräulein Lilly Freud, eine gebürtige Wienerin, hatte mit einer Märchenvorlesung im vollbesetzten Choralionsaale einen großen Erfolg. (…) Die hübschen Verse und Bilder stammen übrigens von Tom M. Freud, einer sehr begabten Schwester der Vorleserin. Die kleinen Hörer konnten sich gar nicht genug tun in Beifall und Zurufen.“ (Neue Freie Presse, 19.12.1911)

Einer von Tom Freuds Lehrern an der „Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums“ war der Berliner Grafiker Carl Mickelait, der vor allem als Illustrator von Kinderbüchern bekannt war. Es mag sein Einfluss gewesen sein, der bewirkte, dass sich Tom in ihrem gesamten Schaffen fast ausschließlich Werken für ein junges Publikum widmete und die Gestaltung von Bilderbüchern als bevorzugte künstlerische Ausdrucksform wählte. Zu Ende des Jahres 1913, Tom Freud war da noch Kunststudentin, erschien im Berliner Verlag „Reuß & Pollack“ ihre erste Buchpublikation: „Das Baby-Liederbuch“ mit kurzen Gedichten und den entsprechenden Illustrationen.

Einer der illustrierten Verse aus dem Band „Das Baby-Liederbuch“

Von 1918 bis 1920 lebte Tom Freud in München, wo sie ein Untermietzimmer in der Nähe der Akademie der Künste bewohnte. Gegenüber hatte sich der damals in München Judaistik studierende Philosoph und Religionshistoriker Gershom Scholem eingemietet. Er beschrieb in seinem 1977 erschienenen Erinnerungsband „Von Berlin nach Jerusalem“ Tom Freud als „eine der unvergeßlichen Figuren jener Jahre“: „Tom war eine ans Geniale grenzende Illustratorin von Kinderbüchern, zum Teil auch deren Verfasserin“, so Sholem, der sie „eine authentische Bohemienne“ nennt, die zahlreiche Kontakte zur Kunst- und Literaturszene der Zeit hatte.[2] Tom Freud lieferte damals auch weiterhin Lichtbilder für die Lesungen ihrer Schwester Lilly, die 1917 den Schauspieler Arnold Marlé geheiratet hatte und einige Jahre ebenfalls in München lebte.

Illustrationen aus dem 1918 erschienenen Band „Das neue Bilderbuch“

„Die Künstlerin weiß, was dem Kinde gefällt, ohne erst durch gesuchte Bilder sich Freunde werben zu müssen, sie sucht nicht originell zu wirken, sie lebt in der kindlichen Phantasie.“ So bewarb der Münchner Georg W. Dietrich Verlag „Das neue Bilderbuch“ von Tom Freud, das im Frühjahr 1918 in der Reihe „Dietrichs Münchener Künstler-Bilderbücher“ herauskam. Der Band sei, so die Verlagsankündigung, kein „Durchschnittsbuch“, sondern werde „d a s Bilderbuch des Jahres 1918 werden.“ (Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 28.2.1918) Der Band war erfolgreich und fand auch internationale Anerkennung. So etwa erschien „Das neue Bilderbuch“ 1919 in einer schwedischen und 1920 in einer niederländischen Ausgabe

1922 kam „Das Buch der Dinge“ heraus, auf dem Toms Familienname mit Seidmann-Freud angegeben ist. Denn im Jahr zuvor hatte sie in Berlin, wo sie nun wieder lebte, den Autor und Übersetzer Jakob Seidmann geheiratet. 1922 kam die gemeinsame Tochter Angela zur Welt, und das mag mit ein Grund gewesen sein, dass „Das Buch der Dinge“ ein, wie es im Untertitel heißt, „Bilderbuch für ganz kleine Kinder“ ist. „Es ist eines jener im guten Sinne modernen Bilderbücher“, hieß es in einer Rezension in der Wiener Zeitung „Der Tag“: „Denn, wenn es auch die Dinge ganz so, wie sie sind, zeigt, so ist immer ein kleines Etwas dabei, das dem Kinde nicht ganz geläufig ist, und das es anregt, seine Phantasie spielen zu lassen und über die Bilder nachzudenken.“ (Der Tag, 21.1.1925).

Buchcover zu und Illustrationen aus „Das Buch der Dinge“

Eines der bekanntesten und bis heute in etlichen Sprachen immer wieder neu aufgelegtes Werk Tom Seidmann-Freuds ist „Die Fischreise“. Im Mittelpunkt steht der kleine Junge Peregrin. Dieser träumt davon, dass ihn sein Goldfisch – der in diesem Traum zu einer riesigen Körpergröße anwächst – in ein Land bringt, das nur von Kindern bewohnt und bewirtschaftet wird. Es ist, wie Peregrin feststellt, eine absolut harmonische, egalitäre Gesellschaft: „Nun merkt er auch: Man kann nichts kaufen; / Kleider gibt es in großen Haufen / und sie gehören dem, der sie braucht. / Wer Hunger hat, ißt. / Man braucht keine Kräfte / zum Sorgen  für Morgen. / Jeder tut, was ihm Freude macht, / darum wird es so gut.“

Illustrationen aus „Die Fischreise“

Geprägt ist diese Traumgeschichte wohl auch davon, dass Tom Freud-Seidmann  großes Interesse an Psychoanalyse und Traumdeutung hatte – vermittelt durch die engen familiären Beziehungen zu ihrem Onkel Sigmund Freud und zu ihrer Cousine Anna Freud. Dies beeinflusste, so ihre Biografin Barbara Murken, „nachhaltig die Gestaltung ihrer Bilderbücher in Text und Illustration“[3].

Nicht nur die Hauptperson in der „Fischreise“, sondern auch der Verlag, in dem der Band 1923 erschien, hieß Peregrin. Gegründet hatte ihn Jakob Seidmann für die Publikation von Büchern seiner Frau (nach der „Fischreise“ erschien dort 1924 „Das Buch der Hasengeschichten“), aber auch für die Herausgabe jener Werke jüdischer Philosophie, mit denen er sich beruflich vorrangig beschäftigte.

Nicht im Peregrin Verlag, sondern im renommierten Berliner Herbert Stuffer Verlag erschienen zwei Werke Tom Seidmann-Freuds, die zu echten Bestsellern wurden: „Das Wunderhaus“ (1927) und „Das Zauberboot“ (1929). Es waren aufwändig gestaltete, interaktive „Spielbücher“, bei denen durch eingefügte Schiebestreifen und Drehscheiben die Illustrationen beliebig verändert werden konnten.

Der Herbert Stuffer Verlag brachte zu Beginn der 1930er Jahre auch vier von Tom Seidmann-Freud gestaltete „Spielfibeln“ heraus, die auf ein interaktives Erlernen von Lesen und Rechnen angelegt waren. „An jeder Stelle hat  man Bedacht genommen, dem Spielenden die Souveränität zu wahren, ihn keine Kraft an den Lehrgegenstand verlieren zu lassen und das Grauen zu bannen, mit dem die ersten Ziffern oder Lettern so gerne als Götzen vor dem Kinde sich aufbauen“[4], schrieb Walter Benjamin über Tom Seidmann-Freuds „Spielfibeln“, denen er zwei ausführliche Artikel in der „Frankfurter Zeitung“ widmete (31.12.1930 und 20. 12 1931).

Die „Spielfibeln“ wurden mehrfach neu aufgelegt, und die „Spielfibel No 1“, die den Titel „Hurra, wir lesen! Hurra, wir schreiben“ trägt, wurde, ebenso wie „Das Zauberboot“, 1930 unter die „50 schönsten Bücher“ Deutschlands gewählt. Diesen Erfolg konnte Tom Seidmann-Freud jedoch nicht mehr miterleben. Ihr Ehemann hatte sich, nachdem er mit dem Peregrin-Verlag und einem weiteren Editionsprojekt im Zuge der damaligen Wirtschaftskrise in Konkurs gegangen war, 1929 das Leben genommen. Dies stürzte Tom Seidmann-Freud in eine schwere Depression. Sie starb am 7. Februar 1930 in Berlin an einer Überdosis Schlaftabletten. Ihre Tochter Angela wurde von Toms Schwester Lilly Freud-Marlé adoptiert.

Das „Berliner Tageblatt“ schrieb am 11. Februar 1930 in einem Nachruf auf Tom Seidmann-Freud: „Sie, die Nichte Sigmund Freuds, hat mit ihren völlig neuartigen, lustig verspielten und dennoch unmerklich belehrenden Bilderbuch-Schöpfungen im besten Sinne angewandte Psychologie getrieben. Aus dem unendlichen Reichtum ihrer kindlichen und kinderähnlichen Phantasie, ihrer suggestiven Verspieltheit, schuf sie eine Reihe der anmutigsten Kinderbücher. (…)  Auf dem äusserst problematischen Literaturgebiet des Kinderbuches hat Tom Seidmann-Freud bahnbrechende Reformen geschaffen; sie tat nicht nur kindlich mit Kindern, sondern nahm sie in Spiel und Belehrung so ernst, wie sie es verdienen.“

Eine der letzten künstlerischen Arbeiten von Tom Seidmann-Freud war das 1929 publizierte „Buch der erfüllten Wünsche“

[1] Barbara Murken, „… die Welt ist so uneben …“. Tom Seidmann-Freud (1892–1930): Leben und Werk einer großen Bilderbuch-Künstlerin. In: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. Jg. 17, Heft 33, Tübingen 2004. S. 80.
[2] Gershom Sholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 4. Aufl. 1993, S. 158f.
[3] s. Fußnote 1, S. 84.
[4] Walter Benjamin, Grünende Anfangsgründe. Noch etwas zu den Spielfibeln. In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften III. Kritiken und Rezensionen. Frankfurt a.M. 1972, S. 312.

1.10.2024. Alle Abbildungen in diesem Beitrag sind Public Domain.

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