SELTSAME INSTRUMENTE ZUR VERMESSUNG DER WELT

Was haben ein Fass Rotwein, ein Dom, das Blau des Himmels, ein Fischernetz, Tornadohühner, ein Maßband für schüchterne Verliebte und das Gelbe vom Eidotter gemeinsam? In vieler Hinsicht sicherlich gar nichts. Und dann aber doch, denn man kann sie alle auch genauer bestimmen, man kann sie vermessen. Warum aber in aller Welt sollte jemand dies tun wollen? Ein triftiger Grund ist, dass man die sehr unterschiedlichen Gaben, Qualitäten und Wohltaten dieser Dinge möglichst gerecht einteilen kann, um sie dann unter den verschiedenen Konsument*innen und Nutzer*innen entsprechend aufzuteilen und zu verteilen.

Den auf den ersten Blick scheinbar fremd- und eigenartigen, ungewöhnlichen, sonderbaren, merkwürdigen, bisweilen spleenigen Verknüpfungen von „Vermessungen“, welche über den „Menschen als (scheinbarem) Maß aller Dinge“ hinausgehen, ist Gerd Folkers, emeritierter Professor für Pharmazeutische Chemie an der ETH Zürich, in einem bemerkenswerten Buch nachgegangen. Der international renommierte Forscher und langjährige Leiter des transdisziplinären Collegium Helveticum war Initiator der „critical thinking initiative“ für Studierende, ist leidenschaftlicher Buchliebhaber, Sammler historischer Messinstrumente, passionierter Skizzenzeichner und macht im Ruhestand eine Lehre im Buchbindergewerbe. Mit seinen vielen Talenten reichert Gerd Folkers, humorvoll und geistreich, sein Buch mit anschaulich-unterhaltsamen Anekdoten an und würzt es zudem mit präzisen wissenschaftlichen Erläuterungen.

Dampf-Indikator – „ein Leistungsausweis für die Dampfmaschine“. Skizze von Gerd Folkers. Abbildung zur Verfügung gestellt vom Chronos Verlag
Dampf-Indikator – „ein Leistungsausweis für die Dampfmaschine“. Skizze von Gerd Folkers. Abbildung zur Verfügung gestellt vom Chronos Verlag

Folkers Forschergeist ist unter anderem durch seine großen Liebe für Jonathan Swifts Roman „Gullivers Reisen“ angeregt worden. Swifts Buch habe ihn darin bestärkt, ungewöhnliche Sachen nicht einfach hinzunehmen, sondern sie aus möglichst vielen Perspektiven und Positionen zu betrachten und zu hinterfragen. Auf seinen eigenen Expedition durch die Regionen dieser Welt habe er, als „eine Art Scout für Seltsamkeiten“, unter anderem den sehr unterschiedlichen Erfindungen von Messgeräten nachgeforscht und diese auch teilweise antiquarisch erworben oder auf Flohmärkten gesammelt. Als studierter Pharmazeut wisse er nur zu gut, dass es sich für einen Apotheker nicht gehöre, sich allein auf „Augenmaß und Handgewicht“ zu verlassen. Schließlich müsse man in diesem Beruf alles genauestens analysieren, quantifizieren und abwägen, um mögliche Schäden von der Kundschaft fernzuhalten. Neben seinen profunden Kenntnissen in Mathematik und chemischen Formeln hat sich Folkers detailliert mit Physik und Mechanik der beschriebenen Messinstrumente beschäftigt. Nicht zuletzt hat er auch eigenhändige Skizzen von diesen gezeichnet. Einige davon finden sich in seinem anspruchsvoll gestalteten Buch wieder.

„Pascal’scher Apparat“. Skizze von Gerd Folkers. Abbildung zur Verfügung gestellt vom Chronos Verlag

Mit einem flotten Erzählstil, der sich an die Idee des „creative fiction writings“ anlehnt, bringt Folkers 29 kurze Anekdoten zum geschichtlichen Kontext der beschriebenen Erfindungen. Das Ganze ist so spannend und humorvoll geschrieben, dass der Rezensent immer wieder geneigt war, noch ein Kapitel mehr zu lesen, als er ursprünglich geplant hatte. So erfuhr er im Buch unter anderem, wie man seit dem 17. Jahrhundert den genauen Volumeninhalt eines Weinfasses, trotz dessen langer Reise durch unzählige Zoll- und Qualitätskontrollen, vor dem Kauf bestimmen konnte, um die teilweise beträchtlichen Verluste dieser Prozeduren nachzuvollziehen. Des Weiteren wird im Buch beschrieben, mit welchen kleinen Betrügereien bei der Vermessung des Verlauf von „Licht und Schatten“ die frühere katholische Kurie versuchte, wieder die Oberhand über die Definition der Tag-Nacht-Gleiche des Jahres zu gewinnen, von der schließlich die Festlegung des Datums ihrer jährlichen Osterfeiern abhing. Berichtet wird, wie früher das genaue Fußmaß für Schuhe mit der „Schusterelle“ vermessen wurde.

Schusterelle, um 1880. Foto © Museum Europäischer Kulturen, Staatliche Museen zu Berlin (CC BY-NC-SA)
Schusterelle, um 1880. Foto © Museum Europäischer Kulturen, Staatliche Museen zu Berlin (CC BY-NC-SA)

Man erfährt, mit welchen Hilfsmitteln der Nobelpreisträger Otto Warburg erstmals die Grundlagen der menschlichen Zellatmung bestimmen konnte. Es geht darum, wie, mit Hilfe von naturwissenschaftlichen Messungen, die „magischen Heilungsgeschichten des Morgentaus“ im Mittelalter entzaubert werden konnten. Gefragt wird, wie man ein Messinstrument herstellt, das einen genau genormten Tropfen für unterschiedliche Arzneiflüssigkeiten garantiert? Wie ist es mit dem „Cyanometer“ gelungen, die atmosphärischen Einflüsse auf die „Bläue des Himmels“ zu berechnen? Wie ließ sich die Qualität des „Gelbs vom Eidotter“ mit einem „Dotterfarbfächer“ weltweit, genau ausgeklügelt, festgelegen?

Farbschema des vom Schweizer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure 1788 entwickelten Cyanometers zur Messung der Intensität der blauen Himmelsfarbe. Original im Genfer „Musée d’histoire des sciences“. Abbildung: Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)
Farbschema des vom Schweizer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure 1788 entwickelten Cyanometers zur Messung der Intensität der blauen Himmelsfarbe. Original im Genfer „Musée d’histoire des sciences“. Abbildung: Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Des Weiteren berichtet das Buch von frühen amerikanischen Versuchen die Geschwindigkeit eines Tornados mit Hilfe der Menge an verlorenen Hühnerfedern festzustellen, nachdem diese Tiere, mit unterschiedlichem Druck, aus einer Kanone herausgeschossen worden waren. Erste Messinstrumente zur genaueren Bestimmung von Wettervorhersagen werden ebenso erläutert wie Instrumente zur Messung des Alters der Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle zu Rom. Mit welchen klugen Instrumenten konnte man schon früh behördlich die Weite der Maschen in Fischernetzen kontrollieren, um dadurch zu verhindern, dass skrupellose Fischer zu kleine Jungfische unerlaubt zum Markt trugen? Nicht zuletzt geht es um ein frühes, französisches Maßband, mit dem schüchterne Verliebte sich besser orientieren wollten, sowie um die Frage nach der ominösen Abwägung des „Gewichts der menschlichen Seele“.

„Seelenwaage“ – Skizze von Gerd Folkers. Abbildung zur Verfügung gestellt vom Chronos Verlag
„Seelenwaage“ – Skizze von Gerd Folkers. Abbildung zur Verfügung gestellt vom Chronos Verlag

Der Titel des Buches bezieht sich auf die geniale Erfindung des „Spiegelhypsometers“ durch den Theologen und späteren Oberförster Martin Faustmann. Mit dessen „freihändigem“ Messinstrument konnte man vor Ort den genauen Wert vom Baumbeständen erkunden und bestimmen. Faustmanns Formel wird noch heute, fast 150 Jahre später, in der modernen Forstwirtschaft verwendet. Man könnte bei all diesen Anekdoten leicht auf die Idee kommen, dass Gerd Folkers nur eine Ansammlung von seltsamen Kuriositäten zusammengetragen habe. Aber weit gefehlt, denn als akribischer Naturwissenschaftler liefert er auch die technisch genauen Erklärungen der Wirkprinzipen der dargestellten Messinstrumente, samt deren möglicher Schwächen, sowie deren moderne Weiterentwicklungen. Wenn der Rezensent Mitglied einer Sachbuchjury wäre, dann würde er Gerd Folkers‘ neues Werk in die enge Wahl für das „wissenschaftliche Sachbuch des Jahres“ einbeziehen. Aber, wer weiß, vielleicht liest ja jemand Kompetenter diese Besprechung, findet selber sein großes Lesevergnügen daran und leitet einen Prämierungsvorschlag an die entsprechende Jury weiter? Ich bin gespannt.

Gerd Folkers: Faustmanns Hypsometer und andere seltsame Instrumente zur Vermessung der Welt. Chronos Verlag, Zürich, 2023.

26.5.2023

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