Bücher über historische Persönlichkeiten sind bekanntlich eine populäre Literaturform. Allerdings werden dabei bisweilen, um biografische Lücken zu füllen, Vermutungen als Tatsachen präsentiert, hin und wieder wird auch, um der Spannung willen, kräftig fabuliert und die Wahrheit zugunsten der „Dichtung“ vernachlässigt. Dass aber auch eine ausschließlich faktenbasierte Biografie überaus lesenswert sein kann, das beweist der Literaturwissenschaftler Walter Schübler mit seinen Büchern – so etwa mit jenem über den Balladendichter und „Münchhausen“-Autor Gottfried August Bürger oder mit jenem über den Schriftsteller Anton Kuh.
Bei seinen Recherchen zu Anton Kuh (dessen Werke er in einer 7-bändigen Ausgabe herausgegeben hat) entdeckte Schübler jene Frau, die nun im Mittelpunkt seines neuesten Buches steht: Bibiana Amon. Diese scheint eine sehr schillernde, faszinierende Persönlichkeit gewesen zu sein, die eine Zeit lang mit Kuh verlobt war, vermutlich als Modell für Egon Schiele arbeitete, die den Künstlerzirkeln in den Wiener Literatencafés der 1910er- und frühen 1920er-Jahre angehörte, die in Berlin als Schauspielerin tätig war und die Vorbild für Figuren in Werken von Robert Musil und Franz Werfel war.
Dennoch hat die 1892 in Linz geborene und 1966 in Paris verstorbene Bibiana Amon (deren Vorname eigentlich Liliana Maria lautete) nur wenige verifizierbare biografische Spuren hinterlassen – dafür aber einen stark autobiografisch geprägten Roman. Dieser wäre wohl eine willkommene Basis für eine der derzeit so beliebten „Romanbiografien“. Für Walter Schübler aber, so betont er im Vorwort, verbietet es sich, Passagen aus Amons Buch in deren „Biografie zu interpolieren, um die Konturen der historischen Person emotional auszupolstern, wenngleich Amon den Lebensweg ihrer Hauptfigur, soweit nachprüfbar, ihrem eigenen engführt.“ Dennoch verwendet er Amons Roman, der – in französischer Sprache – 1939 im Pariser Verlag Denoël erschienen ist und den Titel „Barrières“ trägt. Schübler übersetzte zentrale Passagen aus dem Werk (das deutschsprachige Originalmanuskript konnte er nicht eruieren), stellt sie den von ihm recherchierten biografischen Fakten gegenüber, ergänzt durch Briefe, Zeitungsmeldungen und weitere zeitgenössische Dokumente. All dies ergibt eine hochinteressante Lebensgeschichte. Diese enthält einerseits viel an Spannung und auch einiges an Tragik – und ist andererseits eine fundierte sozial- und kulturgeschichtliche Darstellung.
Trotz des mosaikartigen Charakters wirkt das Buch auch stilistisch in sich stimmig. Dies liegt daran, dass Schübler die Übersetzung von Amons Roman in einer heutigen sprachlichen Form gehalten hat und nicht versuchte, eine vermutete Originalform herzustellen – die ja wiederum eine historische Verfälschung gewesen wäre. Außerdem ist es wohl nur schwer möglich, vom französischen Text auf den – offenbar verloren gegangenen – deutschsprachigen zu schließen. Denn Bibiana Amon verfasste die französische Fassung nicht selbst, sondern ihr Manuskript wurde vom Autor Albert Paraz übersetzt. Dieser aber schien so manche Begriffe und Wendungen missverstanden zu haben, wie Schübler an Unklarheiten und schwammigen Formulierungen in Paraz‘ Übersetzung feststellte. Bibiana Amons 348-Seiten-dicker Roman war übrigens, wie Schübler in einem eigenen kurzen Kapitel zur Rezeption darlegt, in Frankreich sehr erfolgreich, wurde acht Mal wiederaufgelegt, von der Kritik viel beachtet und durchwegs positiv rezensiert.
Walter Schüblers Buch ist überaus lesenswert – und zwar unbedingt inklusive des sehr persönlich gehaltenen Schlusskapitels. „Making of … a Torso oder Leere Kilometer zuhauf“ nennt es der Autor und liefert darin nicht nur eine Schilderung seiner Irrungen und Wirrungen im Zuge der Spurensuche, sondern auch eine Beschreibung all der Hindernisse, die da in Bibliotheken, Archiven und ähnlichen Institutionen immer wieder den Forschenden in den Weg gestellt werden. Walter Schübler hat sie, zum Glück, mit viel Geduld überwunden!
Walter Schübler: Bibiana Amon. Eine Spurensuche. Edition Atelier, Wien 2022.
28.5.2022