Astrid Lindgren ist d i e große Lichtgestalt auf dem Gebiet des europäischen Kinderbuchs. Von Schweden aus gab sie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts dem Schreiben für Kinder ein völlig anderes Gesicht. Mittlerweile weiß man ja viel über ihr Leben, von ihrer Kindheit auf dem Pfarrhof in Vimmerby, von ihrer Tätigkeit als Journalistin, dem unehelichen Sohn, den sie zunächst in Pflege geben musste, von ihrer Tätigkeit als Nachfolgerin von Zarah Leander in der schwedischen Buchhandelszentrale, dann als Sekretärin im Königlichen Automobilclub, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte und schließlich – in den Kriegsjahren – in der Abteilung für Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes (da verließ sie gegen neun Uhr abends das Haus und kam erst am frühen Morgen wieder zurück und niemand, nicht einmal ihre Kinder, durfte wissen, was sie tat).
„Die unbekannte Astrid Lindgren“ steht nun im Mittelpunkt eines – so betitelten – Buches, das Kjell Bohlund verfasst hat. Bohlund war lange Jahre Verleger von „Rabén & Sjögren“, jenem schwedischen Verlag, den Lindgren groß gemacht hat und in dem sie mehr als zwei Jahrzehnte mitgearbeitet hat. Bohlund beginnt seinen Bericht über diese eher unbekannte Seite in der Biografie der so bekannten Schriftstellerin im Jahr 1946, als ein eher glückloser Verleger und eine Bibliothekarin beschlossen, Astrid Lindgren eine Stelle im Verlag anzubieten, „mit dem Auftrag, sich um die Kinderbücher zu kümmern“ (zu ergänzen ist dabei, dass Lindgren damals bereits ihre „Pippi Langstrumpf“ bei „Rabén & Sjögren“ herausgebracht hatte). Lindgren nahm den Auftrag an und blieb bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1970 als Lektorin im Verlag tätig.
Kjell Bohlund weiß, wie man Geschichten – und seien es auch Geschichten, die sich wirklich zugetragen haben – erzählen muss. Er verliert kein kritisches Wort über Lindgren, er präsentiert sie als eine Art Superfrau, und das wohl zu Recht. Denn staunend liest man, wie Lindgrens Tagesablauf aussah: „Vormittags war sie als freie Schriftstellerin zu Hause und nachmittags im Verlag.“ Das heißt, dass die „warme, kluge und rechtschaffene Erzählerin“ gleichzeitig eine „fleißige und effektive Geschäftsfrau“ war. Sie machte den darniederliegenden Verlag zu einem Vorzeigeunternehmen in Sachen Kinderbuch. Und dies nicht nur durch ihr eigenes Schreiben, ihre eigenen Bücher, sondern auch dadurch, dass sie es verstand, sowohl qualitätsvolle Kinderliteratur als auch Bestseller (wie zum Beispiel jene der Britin Enid Blyton), die zwar nicht ganz nach ihrem Geschmack waren, die sie aber dennoch von ihrer Schwester aus dem Englischen ins Schwedische übersetzen ließ, in den Verlag zu holen. „Kinder sollen lesen dürfen, was ihnen gefällt. Auch wenn es Schundliteratur ist“, lautete da ihr Motto, weil sie ja wusste, dass Kinder, also „ihre Zielgruppe sich nicht hinters Licht führen lässt, Rezensionen und Empfehlungen sind ihnen egal.“ Denn, so Bohlund, für Lindgren war klar: „Kinder lesen nun mal einfach anders.“ Als perfekte Netzwerkerin hatte Lindgren auch sehr schnell erkannt, welche Rolle die Massenmedien zu spielen begannen: Journalistinnen und Journalisten zählten zu ihrem Freundeskreis, im Radio las sie mit ihrer angenehmen Stimme aus ihren Büchern und sie war eine der ersten, die sich für ein Fernsehinterview zur Verfügung stellte.
Eine gelungene Abwechslung in Bohlunds biografischer Erzählung sind Auszüge aus den Briefen, die Lindgren regelmäßig an ihre Eltern schrieb (und in denen unter anderem das Essen bei offiziellen Anlässen ein großes Thema war). Kjell Bohlund ist es gelungen, auf dem schmalen Grat zwischen Hagiographie und realer Lebensbeschreibung zu bleiben, und es ist erfreulich interessant und lesenswert, die „unbekannte Astrid Lindgren“ zu entdecken.
Kjell Bohlund: Die unbekannte Astrid Lindgren. Ihre Zeit als Verlegerin. Deutsch von Nora Pröfrock. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2021.
23.2.2022