Zwei Kinder geraten am 24. Dezember, auf dem Heimweg von einem Besuch bei den Großeltern, in dichten Schneefall. Sie verirren sich, finden den Pfad, der über einen Bergpass führt, nicht mehr und geraten in die Gletscherregion. Sie verbringen die eisigkalte Nacht in einer Felshöhle und werden am nächsten Morgen in einer großen Rettungsaktion gefunden und nach Hause gebracht.
Das ist, kurz gefasst, der Plot der Erzählung „Bergkristall“ des österreichischen Schriftstellers Adalbert Stifter (1805–1868). In dem Text geht es neben der für Stifters Werk typischen Konfrontation von Mensch und Natur auch um Fremdenfeindlichkeit, Integration und Emanzipation. Denn die beiden Kinder sind in ihrem Heimatdorf Außenseiter, da ihre Mutter von „außen“ – von der anderen Seite des Berges – kommt. Das Geschwisterpaar und die Mutter werden geduldet, aber nicht akzeptiert, und erst die gemeinschaftliche Suche, an der sich Leute von beiden Seiten des Berges beteiligen, führt zu einem Umdenken.
Erstmals erschienen ist der Text im Dezember 1845 als Fortsetzungsgeschichte in vier Teilen in der Wiener Zeitschrift „Die Gegenwart“ und trug da den Titel „Der heilige Abend“. Ein paar Jahre später, 1853, nahm ihn Stifter dann als „Bergkristall“ in seine Erzählsammlung „Bunte Steine“ auf. „Bergkristall“ ist eines der populärsten Werke Adalbert Stifters. Die Erzählung wird bis heute immer wieder neu aufgelegt und wurde auch mehrfach verfilmt – so etwa 1999 unter der Regie von Maurizio Zaccaro und mit Tobias Moretti in einer der Hauptrollen, und 2004 unter der Regie von Joseph Vilsmaier.
Stifter selbst bezeichnete „Bergkristall“ (so wie auch die anderen Texte der Sammlung „Bunte Steine“) als „Jugendschrift“. Dies entsprach dem grundsätzlichen erzieherischen Anspruch seines Schaffens – und so passt es durchaus, dass die Erzählung nicht nur als Schullektüre Verwendung findet, sondern immer wieder auch als Kinder- und Jugendbuch adaptiert wird.
Eine derartige Neufassung für ein junges Lesepublikum ist vor Kurzem im Bohem Verlag erschienen. Die aus der Schweiz stammende Autorin Anita Sansone Cotti erzählt die Geschichte in gestraffter Form: Dabei verzichtet sie auf Stifters ausgedehnte Landschaftsschilderungen und setzt den Schwerpunkt auf das dramatische Geschehen. Zwar geht damit einiges von der poetischen Kraft des Originals verloren, dafür aber wird umso mehr deutlich, wie aktuell die in dem Text angesprochenen Themen – von Ausgrenzung und Diskriminierung bis zu sozialer Empathie – auch heutzutage sind. Sprachlich ist diese Fassung des „Bergkristalls“ ganz im traditionellen Kinderbuchstil gehalten, die poetischen Bilder werden hier durch die von der slowakischen Grafikerin Maja Dusíková geschaffenen Illustrationen eingebracht. Fazit: bestens geeignet für eine erste Begegnung mit einem Klassiker.
Anita Sansone Cotti nach Adalbert Stifter, Maja Dusíková: Bergkristall. Der Heilige Abend. Bohem Verlag, Affoltern am Albis 2021.