DER TRAUM VOM GRAND HOTEL

„Ein einzigartiger Reichtum an historischer Originalsubstanz“, der „die Zeiten überdauert hat“ und nun „schrittweise und sorgfältig“ „nach denkmalpflegerischen Grundsätzen“ restauriert werde – so urteilte die Jury des „Internationalen Rates für Denkmalpflege – ICOMOS“, als sie das „Kurhaus Bergün“ 2012 mit dem Titel „Schweizer Historisches Hotel des Jahres“ auszeichnete. Kurz danach stand ich erstmals selbst vor diesem imposanten, im malerischen Albulatal gelegenen Jugendstilgebäude. Wir waren damals mit unserem Zürcher Freund Giaco Schiesser dorthin gereist, der sich seit einem knappen Jahrzehnt, als Verwaltungsrat, für die umfangreiche Renovierung dieses geschichtsträchtigen Hauses engagierte. Er präsentierte uns erste, sehenswerte Ergebnisse des Wiederaufbaus und verband dies mit spannenden Erzählungen zur wechselvollen Geschichte des Projekts.

Frühe Gesamtansicht des Kurhauses Bergün. Vom späteren Hotelpark sind erst die Grünflächen und die Wege angelegt.
Frühe Gesamtansicht des Kurhauses Bergün. Vom späteren Hotelpark sind erst die Grünflächen und die Wege angelegt

Jetzt hat er einen außerordentlich schön gestalteten Text- und Bildband über das „Kurhaus Bergün“ unter dem vielsagenden Titel „Der Traum vom Grand Hotel“ herausgebracht. Die Haupttexte haben der Architekturhistoriker Roland Flückiger-Seiler und die Journalistin Corina Lafranchi verfasst, der Großteil der Fotoillustrationen stammt von Heini Dalcher und vom Architekturfotografen Ralph Feiner. Bei der Präsentation des Bandes sprach Giaco Schiesser von einem „unmöglichen Buch“, welches, außerhalb aller üblichen Kategorien, ein „Lese- und Augenschmaus“ sein möchte, das sich an Jung und Alt richte und sowohl ein breites als auch ein wissenschaftliches Publikum ansprechen und begeistern wolle.

Das Buch erzählt die sehr wechselhafte Geschichte des auf dem großen „Landsgemeindeplatz“ von Bergün erbauten und 1906 eröffneten Kurhauses von seiner Gründung bis heute. Die „Landsgemeindeplätze“ waren (und sind es in einzelnen Schweizer Kantonen bis heute) zentrale Orte der schweizerischen Demokratie: dort wurde einmal jährlich, im Mai, unter freiem Himmel über öffentliche Belange diskutiert und darüber abgestimmt. Nach der Errichtung des Hotels wurden, von Anfang an bis 1979 (als die Landsgemeinde im Kanton Graubünden abgeschafft wurde), diese jährlichen Treffen, gewissermaßen als bleibendes Privileg, im großen Speisesaal des Hauses abgehalten.

Der Speisesaal des Kurhauses Bergün im originalen Zustand
Der Speisesaal des Kurhauses Bergün im originalen Zustand

Immer wieder nehmen die Texte Bezug auf die kulturellen, ökonomischen, politischen und touristischen Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Dafür wurden zahlreiche Archive durchforstet und Gespräche mit ZeitzeugInnen geführt, wobei sich manche Überraschungen fanden und auch einige Geheimnisse – etwa um die verschollenen, originalen Architekturpläne oder das von Anfang an existierende hauseigene Kino, sowie das einzig erhalten gebliebene Filmplakat aus den 1920er Jahren – gelöst werden konnten.

Besonderen Wert haben der Herausgeber und die Gestalterin Naima Schalcher auf die ästhetische Umsetzung des Buches gelegt. Darin findet sich einerseits linkseitig der fortlaufende chronologische Text und rechtsseitig, optisch abgesetzt, präzise formulierte „Streiflichter“ zu einzelnen Besonderheiten dieses Hauses und seiner Umgebung. So etwa geht es hier um die Renovierung des Gebäudes in der Bauhütten-Tradition, um das alte Schwimmbad, das auf 1.400 Metern höchstgelegene unbeheizte Freibad Europas, um die berühmte Schlittenbahn auf der Albula-Passtrasse und um die Besonderheiten des Ferienmachens von Familien in der Schweiz von 1930 bis 1960. Ergänzt werden die rechten Seiten mit rund einem Dutzend Interviews und Portraits von Menschen, welche die Geschichte des Kurhauses in unterschiedlicher Art und Weise geprägt haben. Als zweites wichtiges gestalterisches Element enthält das Buch großzügige Bildstrecken mit oft doppelseitigen Bildern. Diese eröffnen einerseits als Bildintros einzelne Kapitel, zum anderen besticht der prominent gesetzte Bild-Mittelteil. Die Bilder zeigen sowohl die veränderten sozialen Nutzungen als auch die baulichen Veränderungen der Repräsentationsräume im Erdgeschoss, entlang der drei großen Epochen und Transformationen, die das Kurhaus durchlebt hat: vom A.G. „Kurhaus und Sporthotel Bergün“ (1906-1949) über die danach umbenannte „Chesa Grusaida“ („Haus Alpenrose“) des „Schweizerischen Vereins für Familienherbergen“ (1955-2001) bis hin zur jetzigen „Kurhaus Bergün A.G.“ (2002- heute).

Um einen Aufenthalt im Kurhaus Bergün auch im Winter attraktiv zu machen, wurde direkt vor dem Hotel eine künstliche Eisbahn angelegt
Um einen Aufenthalt im Kurhaus Bergün auch im Winter attraktiv zu machen, wurde direkt vor dem Hotel eine künstliche Eisbahn angelegt

Im oberen Albula-Tal gelegen, angebunden an die geschichtsträchtige und teils spektakuläre, als Unesco-Welterbe klassifizierte Rhätische Eisenbahn-Strecke, sollte das Kurhotel ursprünglich eine Zwischenstation für wohlhabende Reisende auf dem Weg in die renommierten Ferienorte des oberen Engadins – wie etwa St. Moritz, Pontresina und Sils Maria – sein. Erbaut wurde es zwischen 1904 und 1906 nach Plänen des Zürcher Architekten Jost Franz Huwyler-Boller, der auf luxuriöse Hotelbauten spezialisiert war (so wurde auch das zur selben Zeit wie das „Kurhaus Bergün“ errichtete „Cresta Palace“ im nahen Celerina von ihm geplant). Zur aufwendigen und für die damalige Zeit ausgesprochen modernen Ausstattung gehörten unter anderem elektrisches Licht, eine Zentralheizung, sowie, für die damalige Zeit außerordentlich, ein Lift.

Dennoch hat sich das Vorhaben ökonomisch nie richtig gerechnet – auch wenn das Haus ab 1911 nicht nur, wie damals üblich, im Sommer geöffnet war, sondern auch im Winter, um am beginnenden internationalen Wintersportboom teilhaben zu können. Eine Ausnahme war die Zeit des Ersten Weltkrieges, als mehrheitlich einheimische Gäste (und das Schweizer Militär) kamen. Im Zweiten Weltkrieg forderte die schweizerische Regierung auf, so erläutert Giaco Schiesser in einem „Streiflicht“ des Buchs („Ferien in der Schweiz, 1930–1960“), Ferien in der Schweiz zu machen – mit dem Ziel gleichermaßen die damalige Krise des Tourismus ökonomisch zu mildern, die Jugend zu „wehrertüchtigen“ und im Rahmen der „Geistigen Landesverteidigung“ den ideologischen Schutzschild der mehrsprachig-multikulturellen Schweiz gegen den Nationalsozialismus zu stärken. Nach einem großen Brandunglück 1949 übernahm vorübergehend die Gemeinde das Haus, ein schweizweit einmaliger Glücksfall. Diese vermietete das Kurhaus 1952 zunächst an die „Schweizerischen Familienherbergen“, einer von Methodisten getragenen Vereinigung, welche Familien einen billigen Urlaub ermöglichen wollte, bis der Verein das Kurhaus dann 1955 von der Gemeinde kaufte.

Im Speisesaal des Kurhauses war ab 1955 ein Schlafsaal für Knaben eingerichtet. Foto Heini Dalcher.
Im Speisesaal des Kurhauses war ab 1955 ein Schlafsaal für Knaben eingerichtet. Foto: Heini Dalcher

Die Ausstattung des Hauses mit dem Allernötigsten und der Ferienbetrieb waren lange ein erfolgreiches Konzept, bis diesem Träger aber schließlich das Geld für dringend notwendig gewordene Renovierungen fehlte und der Verein deshalb gezwungen war zu verkaufen. Überraschenderweise fand sich dann eine bunte Mischung aus langjährigen Gästen in einer neuen AG zusammen, welche nach langer Suche kreditwürdig wurde, um mit viel Sorgfalt und Geschick dieses Juwel der Jugendstil-Baukunst wiederherzustellen und auch, mit einem speziellen Betriebsmodell, wieder geschäftsfähig zu machen.

In der Zeit, als der „Verein für Familienherbergen“ das Gebäude innehatte, waren viele Elemente der ursprünglichen Jugendstil-Architektur mit Spanplatten überdeckt oder auch abgehängt und im Keller gelagert worden. Sie wurden ab 2002 in mühevoller Kleinarbeit, im kollektiven Bauhütten-Prinzip, zusammen mit örtlichen Handwerkern im Originalstil restauriert und wieder eingefügt. Die ursprünglichen Rattan-Möbel waren nicht mehr vorhanden, aber man konnte sie, nach ausgiebigen Recherchen, in einer vietnamesischen Spezial-Fabrik originalgetreu nachbauen lassen.

Derartige „Kritzeleien“, die aus jener Zeit stammen, als das Kurhaus erbaut wurde, kamen bei der Renovierung ab 2002 zum Vorschein. Im Buch heißt es dazu: „Zur jahrhundertealten Tradition von Maurern und Gipsern gehört es, dass sie nach getaner Arbeit Zeichnungen, Wörter, Sätze auf den frisch gemauerten Wänden anbringen, wissend, dass irgendwann die Farb- oder Tapetenschichten, die sich mit der Zeit ansammeln, bis auf die nackten Mauern abgetragen und diese von Grund auf neu bemalt oder tapeziert werden. Die ‚Kritzeleien‘ waren Kassiber, geheime Botschaften an die künftigen Hausnutzerinnen und -nutzer – auf dass sich diese, für einen kurzen Moment, an diejenigen erinnern mögen, die das Haus einst gebaut hatten.“ Foto: Heini Dalcher

Die Leitung des Betriebs wurde ab 2009 schließlich professionalisiert und ein Restaurant eingerichtet. Inzwischen gibt es eine Mischnutzung aus saisonalen Familienferien, Hotelbetrieb, sowie Tagungs- und Eventbelegungen, und es sind ökonomisch stabile Zeiten erreicht worden. Eine lange Zeit ungenutzte Thermalquelle und die Heilwasserquelle des Orts wurden neu entdeckt und 2021 aktiviert, sowie ein neues Badehaus mit Sauna im ehemaligen Eiskeller gebaut. Jetzt wird überlegt, ob zukünftig auch medizinische Kuranwendungen ein Teil des Projekts werden können. Die ursprünglich improvisierte Kurhaus A.G. hat sich, mit viel Elan und klugen Strategien, inzwischen zu einem stabilen, ökonomischen Faktor des Bergüner Lebens entwickelt.

Das Vestibül, wie es sich nun, nach der Renovierung, präsentiert. Foto Ralph Feiner.
Das Vestibül, wie es sich nun, nach der Renovierung, präsentiert. Foto: Ralph Feiner

Was das Kurhaus Bergün über seine bewegt-bewegende Historie hinaus auszeichnet, sind seine architektonischen Besonderheiten. Besonders hervorzuheben sind der prächtig renovierte Jugendstil-Speisesaal, der ehemalige Damensalon, das Kino, das neue Restaurant, sowie die wiederhergestellte Hotelküche im Keller, welche heute auch für kulturelle Events benutzt wird. Die Zimmer sind stilvoll und klar modernisiert worden. Wer sich einige Tage im Kurhaus gönnt, den umfängt einerseits der Traum vom vergangenen Grand Hotel, inklusive etwas „Zauberbergatmosphäre“, und andererseits bieten die grandiose Kulisse der Graubündener Alpen und des traditionellen Orts Bergün beste Gelegenheiten zur Erholung.

Das Buch „Der Traum vom Grand Hotel“ sticht in seiner Machart und in seinen Texten deutlich aus der inzwischen reichlichen Literatur über klassische Hotels heraus. Es erzählt schnörkellos von Träumen, Illusionen, Erfolgen und Enttäuschungen, von einer sehr wechselvollen Nutzung durch unterschiedliche soziale Gruppen und von den gelungenen Hoffnungen einer Gruppe sehr unterschiedlicher Enthusiasten, welche erfolgreich etwas bewahren und zugleich weiterentwickeln. Die Gestaltung und die spannend und gut lesbar geschriebenen Texte laden nicht nur auf vielfältige Weise zur Buchlektüre ein, sondern auch zu einem Besuch dieses ungewöhnlichen Projekts.

Giaco Schiesser (Hg.), Roland Flückiger-Seiler, Corina Lanfranchi: Kurhaus Bergün – Der Traum vom Grand Hotel. Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2021.

18.3.2022. Alle Abbildungen in diesem Beitrag wurden vom Verlag „Hier und Jetzt“ zur Verfügung gestellt

Die Themen der Flaneurin:
Nach oben scrollen